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Tübingen. 29. X. 07.

Liebes Paulchen!

Eben habe ich mich durch Haerings Dogmatik endgültig durchgefressen u. will dies Fest begehen durch einen Brief an Dich. Schade, daß wir nicht manchmal zusammenkommen können auf dem Hexenbesen oder sonstwie. Ich bin oft bis oben geladen u. hätte dann eine Entladung sehr nötig. Da wärst Du gut. Doch nun muß ichs aber so versuchen.

Daß Ihr aktiv seid, ist ja recht, hoffentlich könnt Ihr Einiges leisten. Nicht durch große Konventsreden oder durch Paragraphen, sondern durch persönlichen Verkehr, Verderbung von Füxen. Hier ist noch ein größeres Wunder geschehen. Daniel hat sich aktiv gemeldet. Die Verbindung ist jetzt so, daß man es wieder versuchen kann. Doch darüber will ich im Rundbrief berichten.| Sonst geht es ungefähr wie letztes Sem. fort. Ich arbeite mit Lust. Daß die Not das Motiv zur Arbeit ist, bestreite ich jetzt nachdem die ärgste Not vorbei ist, entschieden. Es ist eine Lust zu arbeiten u. zu denken. U. vollends Dog. I. bei Schlatter ist der Höhepunkt jeden Tags. Verhältnis von Theologie u. Philosophie beleuchtete er heut z.B. glänzend. Der Unterschied besteht nicht in der Form des Denkens, nicht darin daß der Theologe glaubt u. der Philosoph untersucht u. begründet. Eine Th. die nicht begründet, ist eine schwache u. jede Philosophie glaubt. Der Unterschied besteht im Resultat, im verschiedenen Gottesgedanken. Der Schmerz, der darin liegt, in dieser Spaltungist zu muß getragen werden, der Vorteil daß man hineinsieht in einen Menschen, u. Gottesgedanken ohne Christus ist auszunutzen. – Dann wars prachtvoll, wie er aufzeigte, daß die Religion, das treibende Motiv der Philosophie ist. Die hellenische Philosophie wird erst durch die Sokratiker, durch ihre Religiosität, bedeutsam u. jemehr sie sich entwickelt| (Stoa, Neoplatonismus) tritt dies religiöse Moment heraus u.über beherrscht alle anderen. Durch seinen Gottesgedanken wird Spinoza wirksam u. Kant nicht durch sein Erkenntnisprinzip, sondern durch den religiösen Einschlag, wie die Entwicklung Fichte, Schelling, Hegel zeigt.

Dann zeigt er den Wert derTheologie Philosophie für die Th. auf. Kant hat uns den Pflichtbebegrifft gebracht, u. Schoppenhauer den Willen gelehrt, "sonst liefen die Tübinger Studenten noch heute als Hegelsche Scholastiker herum".

Man fühlt deutlich, wie der Horizont sich weitet, wie man Gottes Wirken sieht, inmitten all der sündigen Denkgeschichte.

Vom Zweifel als Motiv derDenk Wissenschaft sagte er prachtvoll: Der Zweifel ist eine Krankheit, u. jeder ernsthafte Zweifel will geheilt werden. Drum ist er wohl ein gutes Weckmittel, aber er macht das Denken tumultuarisch (Cartesius) u. führt zum Anselmschen Onthologischen. Rasch will der Zweifler geheilt werden, durch die Kraft eines einzigen Syllogismus| Zum Schauen u. Beobachten hat er keine Zeit. U. der Zweifel ist nicht ein dauerndes Motiv. "Darum haben die Studenten auf der Universität Ansätze zu ernsthafter wissenschaftlicher Arbeit, (meine Herren, Sie sehen ich bin nicht zu optimistisch) u. dann im Amt lange leeres Geschwätz, denn man kann nicht 30 J. zweifeln.

Die Liebe aber höret nimmer auf.

Entschuldige, daßDir ich Dich so bombardiere. Aber ich bin zu voll. u. es sind nur wenige von den prachtvollen Gedanken, die mir so von selbst in die Feder flossen. Doch nun genug des Objektiven, das mir doch sehr subjektiv ist.

Du bist nun also auch bei der Arbeit u. ich will sehen, ob es Dir auch so geht; daß Du Jülicher schützt zeigt mir allerdings, daß Du hier noch hübsche Kinderschüchen anhast. Ich hoffe "Johannes" wird Dich überzeugen, welcher Art das "wissenschaftliche" Arbeiten hier ist. Ich bin ja weit entfernt auf Einleitungsfragen den geringsten, persönlichen Wert zu legen, aberw man will doch| auch hier Wissenschaft u. keine Geschmacksurteile, wie sie Jülicher liebt. – Für Hebräisch rate ich Dir mal einfach ohne Kommentar die XII Propheten (mit einer gedruckten Präparation) durchzuübersetzen. Da hast Du am Meisten davon u. da stört es ja nicht, wenn die Sätze dunkel sind. Dann sieht man eben im Kuntzsch nach.

Was Du von εποχή des Urteils etc. sagst, ist ganz meine Meinung. Ich bin an dem letzten Semester, wo mich niemand zwang Urteile zu fällen, sehr froh. Man könnte sich doch ein etwas besseres wissenschaftliches Gewissen erwerben. Es wird immer mehr mein Bestreben sein, mir persönlich einen festen klaren Halt zu erwerben, den vielen wissenschaftlichen Fragen aber mit der nötigen αταραξία gegenüberzutreten, die lediglich schaut.

Darum glaube ich auch, daß Du mit Albert zusammen recht gut vorankommst. Es ist ein Vorurteil, daß man zumGeg Denken immer einen Gegner braucht, ein Freund hilft mehr.| Sowie wir mit einem Gegner denken, bilden wir unsere Gedanken antithetisch, also anormal, u. leider auch nie ganz ohne die Sünde des Rechthabenwollens. Ein Freund, der gleichstrebt, u. uns nicht zum Sitzen einlud, hilft mit, denn 4 Augen schauen mehr als 2.

Lorenz ist sehr nett. Leider kann er das Urteil über die Verbindung nicht lassen u. das paßt in unsere Friedenspolitik nicht hinein. Wir haben es doch soweit gebracht, daß der X auf dem Konvent sagte: Er werde sich freuen, wenn die Hallenser aus ihrer Abgeschlossenheit, an der nur die Verbindung selbst schuld sei, herausginge etc. Liebenswürdig sind sie alle sehr. Schetelig muß sehr seiner Gesundheit leben, sonst geht's ihm gut.

Grüße herzlich Albert. Auch Ernst Grundlies bitte ich besonders zu grüßen. Ich habe ihn ja immer nur kurz gesehen, aber er ist mir deshalb sympathisch, weil er der einzige hochmusikalische Mann ist, den ich bisher getroffen habe, der nicht hochmütig ist (cf. Zimmermann)

Mit herzlichen Grüßen und besten Wünschen Dein tr. Alfred.
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    • Theodor von Haering, Der christliche Glaube (Dogmatik) Calw 1906.