Der editierte Text

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Lieber a!

War mein Gewissen schon sehr bedrückt, als ich neulich entdeckte, daß Du im Juli geboren bist, so wurde der Druck noch viel stärker, als Dein Brief1 ankam; und um ihn zu erleichtern, sollst auch als erster der Gratulanten beantwortet werden. Hoffentlich erwirkt mir das Verzeihung. – Die unangenehme Tatsache, schon 22 Jahre alt zu sein, wurde durch Deinen nebst etwa 20 anderen Geburtstagsbriefen2 versüßt, meist von lieben Brüdern, z. Teil in rührender Nächstenliebe, wie z.B. b und c, andere in Form von glühenden Kohlen wie Du – hab herzlichen Dank. Außerdem: Ein d-e f, ein g: h, ein i: j. (An k: Endlich auch der in l vermißte m3). Daß Du in n bist und Dich psycho-physisch so wohl fühlst, freut mich sehr; ich rechne es mir z.Teil als Verdienst an. Daß Eure geistige Nahrung allein das Berliner Tageblatt [sic!] ist, traue ich Euch doch nicht zu; also: Schlemmerei, neidisch etc. o Verlobung war mir neu: Auf ihn bin ich noch neidischer, also vorläufig nichts zu erwarten. – Nun habe ich schon 14 Tage meine Arbeiten4 und fühle mich noch sehr rückständig. Die erste ist in der Tat umfassend, nämlich die ganze johanneische Theologie. Nach einer Übersicht über die historische Situation der Debatte suche ich zu zeigen, daß der Logosbegriff kein "theo"logischer, sondern ein christologischer ist, um dann in der Christologie eine Synthese zwischen q und r durchzuführen; Gegen s scheint mir richtig zu sein, daß der Logosbegriff kein auf fremdem Boden gewachsener ist, der einen Antagonismus in die ganze johanneische Theologie bringt, gegen t, daß der hellenistische Einfluß in Ton und Formulierung der Gedanken nicht auszuschließen ist5. Also etwa: Die Logoskonception ist im Zusammenhang der johanneischen Intuition6 organisch erwachsen, im einzelnen sind ihre Motive nachweisbar. Die Konception selbst ist in ihrem Sosein nur durch hellenistischen Einfluß auf Ton und Form, aber nicht als urchristlichen widersprechend, zu verstehen und ihr Einfluß auf die Gesamtstimmung des Evangeliums unbestreitbar; wie auch sonst hellenistische Färbung unverkennbar ist. Die Weise, in der v Widersprüche | sucht, finde ich eben gesucht; aber die Leichtigkeit, mit der w die Synoptiker in Johannes wiederfindet, genügt zur Erklärung der Eigenart nicht. Im Wesentlichen wird man allerdings auf die johanneische Intuition zurückgehen müssen. Ich bin durch die Arbeit und die umfangreiche Litteratur [sic!] so ziemlich in alle Probleme, die darum hängen[,] sehr gut hereingekommen und merke, daß ich vom apostolischen Zeitalter und neuen Testament noch rein nichts kapiert hatte. Daher bin ich für die Arbeit sehr dankbar, zumal ich dadurch in Johannes tüchtig hineinkomme, der mir doch im neuen Testament am nächsten steht. – Über die andere Arbeit habe ich noch kaum nachgedacht. Ich denke sie dogmen- und theologiegeschichtlich zu beginnen und bis zur Gegenwart durchzuführen. Dann die Debatte so fortzuführen, daß ich die Gegenwart u. a. als Renaissance des Idealismus betrachte und dann die entscheidende Debatte mit x führe. Ob die Berliner dafür reif sind, ist mir egal. Mir ist das Problem, wie Du weißt, immer noch eins der brennendsten und ich bin froh ex officio darüber nachdenken zu müssen. – Was meine Geistesfreiheit betrifft, so ist sie durch die beiden Arbeiten in einer Weise erwacht, die bis an Willkür grenzt. Ich7 hoffe, daß sie in den 2 Monaten nach dem Schriftlichen noch einmal wieder abgetötet wird, zu Gunsten des unendlich Kleinen, das bis auf die unsterbliche y zusammengeschmolzen ist. Gesundheitlich geht es mir bei diesem faulen Leben recht gut, dank der Energie meiner z und allerhand von aas importierten Eisenpräparaten. Im September kommen die offiziellen ab 14 Tage, die sich vielleicht noch um 8 vermehren. Ich werde dort die Predigt8 machen. quae mutatio! Sagst Du mit Recht. Ob ich den "Bärentöter" wiederfinde? Sage ac, er könnte nur durch das Doppelte eines normalen Briefes Verzeihung erlangen! Und nur, wenn sofort!

Leb wohl und sei herzlich gegrüßt von Deinem treuen
ad P. S.

Auf Wiedersehen im Dezember, wo ich Dich in Examens-Frack-und-Cylinder vom Bahnhof abholen werde. Herzlichen Gruß Dein ae


Fußnoten, Anmerkungen

1Nicht überliefert.
2Keiner der Geburtstagsbriefe ist überliefert.
3Werk konnte nicht ermittelt werden.
4Gemeint sind die Examensarbeiten "Die Stellung des Logosbegriffs im Johannesevangelium" (nicht publiziert) im Neuen Testament und "p" in der Systematischen Theologie.
5Vgl. u.
6Gemeint ist die johanneische Erkenntnislehre.
8Gemeint ist die Examenspredigt über 1. Kor 3,21–23.

Register

aBüchsel, Friedrich Hermann Martin
bSchubert, Daniel
cBanzhaf, Friedrich
dMöller, Wilhelm
eHans von Schubert
fMöller, Lehrbuch der Kirchengeschichte, 1902
gSchlatter, Adolf
hSchlatter, Zur Topographie und Geschichte Palästinas, 1893
iWeizsäcker, Carl Heinrich
jWeizsäcker, Das apostolische Zeitalter der christlichen Kirchen, 1892
k???, Sepp
lKassel
mBakel, Hendrik Anton van
nHomberg
oHeinzelmann, Gerhard
pTillich, Welche Bedeutung hat der Gegensatz von monistischer und dualistischer Welta..., 1998
qHoltzmann, Heinrich Julius
rLütgert, Wilhelm
sHoltzmann, Heinrich Julius
tLütgert, Wilhelm
uLütgert, Die johanneische Christologie, 1899
vHoltzmann, Heinrich Julius
wLütgert, Wilhelm
xMedicus, Fritz
yMakrina, ???
zFritz, Johanna
aaSchafft, Hermann
abMisdroy
ac???, Sepp
adTillich, Paul
aeTillich, Paul

Überlieferung

Signatur
Deutschland, Marburg, Philipps-Universität Marburg, Deutsches Paul-Tillich-Archiv, Büchsel, Friedrich , 008 B
Typ

Brief als maschinenschriftliche Abschrift überliefert

Postweg
unbekannt - unbekannt
voriger Brief in der Korrespondenz
Brief von Alfred Fritz an Paul Tillich vom 29. Oktober 1907
nächster Brief in der Korrespondenz
Brief von Paul Tillich an Alfred Fritz vom 17. Oktober 1914

Entitäten

Personen

Orte

Literatur

Bibelstellen

Zitiervorschlag

Brief von Paul Tillich an Friedrich Büchsel vom August 1908, in: Paul Tillich, Korrespondenz. Digitale Edition, hg. von Christian Danz und Friedrich Wilhelm Graf. https://tillich-briefe.acdh.oeaw.ac.at/L00268.html, Zugriff am ????.

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