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Lieber Friedrich!

War mein Gewissen schon sehr bedrückt, als ich neulich entdeckte, daß Du im Juli geboren bist, so wurde der Druck noch viel stärker, als Dein Brief1] ankam; und um ihn zu erleichtern, sollst auch als erster der Gratulanten beantwortet werden. Hoffentlich erwirkt mir das Verzeihung. – Die unangenehme Tatsache, schon 22 Jahre alt zu sein, wurde durch Deinen nebst etwa 20 anderen Geburtstagsbriefen2] versüßt, meist von lieben Brüdern, z. Teil in rührender Nächstenliebe, wie z.B. Daniel Schubert und Häfele, andere in Form von glühenden Kohlen wie Du – hab herzlichen Dank. Außerdem: Ein Möller-Schubert I., ein Schlatter: Jüdische Geschichte, ein Weizsäcker: Apostolisches Zeitalter. (An Sepp: Endlich auch der in Kassel vermißte Bakel3]). Daß Du in Homberg bist und Dich psycho-physisch so wohl fühlst, freut mich sehr; ich rechne es mir z.Teil als Verdienst an. Daß Eure geistige Nahrung allein das Berliner Tageblatt ist, traue ich Euch doch nicht zu; also: Schlemmerei, neidisch etc. Menzels Verlobung war mir neu: Auf ihn bin ich noch neidischer, also vorläufig nichts zu erwarten. – Nun habe ich schon 14 Tage meine Arbeiten4] und fühle mich noch sehr rückständig. Die erste ist in der Tat umfassend, nämlich die ganze johanneische Theologie. Nach einer Übersicht über die historische Situation der Debatte suche ich zu zeigen, daß der Logosbegriff kein "theo"logischer, sondern ein christologischer ist, um dann in der Christologie eine Synthese zwischen Holtzmann und Schmuhl durchzuführen; Gegen Holtzmann scheint mir richtig zu sein, daß der Logosbegriff kein auf fremdem Boden gewachsener ist, der einen Antagonismus in die ganze johanneische Theologie bringt, gegen Schmuhl, daß der hellenistische Einfluß in Ton und Formulierung der Gedanken nicht auszuschließen ist5]. Also etwa: Die Logoskonception ist im Zusammenhang der johanneischen Intuition6] organisch erwachsen, im einzelnen sind ihre Motive nachweisbar. Die Konception selbst ist in ihrem Sosein nur durch hellenistischen Einfluß auf Ton und Form, aber nicht als urchristlichen widersprechend, zu verstehen und ihr Einfluß auf die Gesamtstimmung des Evangeliums unbestreitbar; wie auch sonst hellenistische Färbung unverkennbar ist. Die Weise, in der Holtzmann Widersprüche sucht, finde ich eben gesucht; aber die Leichtigkeit, mit der Schmuhl die Synoptiker in Johannes wiederfindet, genügt zur Erklärung der Eigenart nicht. Im Wesentlichen wird man allerdings auf die johanneische Intuition zurückgehen müssen. Ich bin durch die Arbeit und die umfangreiche Litteratur so ziemlich in alle Probleme, die darum hängen, sehr gut hereingekommen und merke, daß ich vom apostolischen Zeitalter und neuen Testament noch rein nichts kapiert hatte. Daher bin ich für die Arbeit sehr dankbar, zumal ich dadurch in Johannes tüchtig hineinkomme, der mir doch im neuen Testament am nächsten steht. – Über die andere Arbeit habe ich noch kaum nachgedacht. Ich denke sie dogmen- und theologiegeschichtlich zu beginnen und bis zur Gegenwart durchzuführen. Dann die Debatte so fortzuführen, daß ich die Gegenwart u. a. als Renaissance des Idealismus betrachte und dann die entscheidende Debatte mit Medikus führe. Ob die Berliner dafür reif sind, ist mir egal. Mir ist das Problem, wie Du weißt, immer noch eins der brennendsten und ich bin froh ex officio darüber nachdenken zu müssen. – Was meine Geistesfreiheit betrifft, so ist sie durch die beiden Arbeiten in einer Weise erwacht, die bis an Willkür grenzt. Ich1 hoffe, daß sie in den 2 Monaten nach dem Schriftlichen noch einmal wieder abgetötet wird, zu Gunsten des unendlich Kleinen, das bis auf die unsterbliche Makrina zusammengeschmolzen ist. Gesundheitlich geht es mir bei diesem faulen Leben recht gut, dank der Energie meiner Schwester und allerhand von Schaffts importierten Eisenpräparaten. Im September kommen die offiziellen Misdroyer 14 Tage, die sich vielleicht noch um 8 vermehren. Ich werde dort die Predigt7] machen. quae mutatio! Sagst Du mit Recht. Ob ich den "Bärentöter" wiederfinde? Sage Sepp, er könnte nur durch das Doppelte eines normalen Briefes Verzeihung erlangen! Und nur, wenn sofort!

Leb wohl und sei herzlich gegrüßt von Deinem treuen P. S.

Auf Wiedersehen im Dezember, wo ich Dich in Examens-Frack-und-Cylinder vom Bahnhof abholen werde. Herzlichen Gruß Dein Paul

  1. 1Diese – im Ms. gut lesbaren – Worte am Ende einer Seite sind etwas tintenverwischt. Darunter in Bleistiftschrift: "Verzeih! das Löschblatt riß!"
Entität nicht im Datensatz vorhanden

Personen:

Orte:

Literatur:

  • Weizsäcker, Carl Heinrich, Das apostolische Zeitalter der christlichen Kirchen, Freiburg i.Br. 1892. 
  • Tillich, Paul. Welche Bedeutung hat der Gegensatz von monistischer und dualistischer Weltanschauung für die christliche Religion?, in: GW I: Frühe Werke, hrsg. v. Gert Hummel/Doris Lax, Berlin/New York, 1998, 20–153. 
  • Ernst Wilhelm Möller: Lehrbuch der Kirchengeschichte (Hg. Hans von Schubert), Tübingen, 1902. 
  • Schlatter, Adolf, Zur Topographie und Geschichte Palästinas, Stuttgart 1893. 
  • Lütgert, Wilhelm, Die johanneische Christologie, in: Beiträge zur Förderung christlicher Theologie, 3. Jg. (1899), 1. Heft, Gütersloh: C. Bertelsmann.