Der editierte Text

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a, d. 17. Oktober 1914.
Lieber b!

Ich hoffe, daß Du von allerhand Winkeln her allerhand über mich gehört hast, von den unruhigen Tagen in c, von der 8 tägigen Reise unter mancherlei Abenteuern, Quartieren und d durch e und f; von dem stolzen ersten Ritt von der letzten Eisenbahnstation 13 km durch die Lande bis zu meiner Division; von der relativen Ruhe, die hier herrscht und auch durch die andauernde Kanonade nicht wesentlich gestört wird. So bleibt denn nicht viel Neues zu erzählen. Über die allgemeine kriegerische Lage bist Du besser orientiert als ich. Heut sagte der g, es könnte noch 14 Tage {und} länger dauern, ehe eine Änderung eintritt. Wir wünschen alle, daß es bald vorwärts geht. Die VII Reserve-Division, die bei dem berühmten Einmarsch in h und i immer voran war, liegt jetzt eingegraben in die Schützengräben und hat kaum etwas anderes zu tun als zu hören, wie die Granaten und Schrapnells drüber hinsausen ohne Schaden zu tun. Ich glaube kaum, daß es mir möglich sein wird, einmal in die Schützengräben zu kommen. Es geht nur Nachts und gerade dann wird viel geschossen.| Die Umgebung des Dorfes, wie der meisten andern ist wüst und scheußlich, das unausgedroschene Getreide liegt faulend umher, dazwischen zerbrochene Wagen, Fahrräder, Kisten und drgl; plötzlich ein penetranter Gestank: Ein Pferd, das nicht tief genug verb vergraben ist, eine sehr häufige Erscheinung. Im Übrigen ist die ganze Umgebung der Häuser eine große Bedürfnisanstalt, was auch nicht zur Erhöhung der Reize dient. ein [sic!] paar Schritt von unsrem Hause entfernt sind etwa 20 Soldaten begraben, aus irgend einem früheren Gefecht, einfache Holzkreuze mit Laub; Name und Datum bei einigen eingebrannt. Auf dem Grab der Helm. – Heute war ich auf dem Kirchhof in j, weit vorn, dunkle Tannen, eine Mauer aus Quadersteinen; von dort einen wundervollen Blick auf das k, von dem Granaten und Schrapnells angeflogen kamen und 2 km entfernt platzen, 2 Schrapnell sogar noch näher; ein dünner Blitz und ein weißes Wölkchen in der Luft zeigt den Ort an. Wenn die Kanonen von den Seiten ertönen – wir liegen im Halbkreis nach vorn, dann wird mir manchmal unheimlich zu Mut, ob wir die Stellung werden halten können.| Kriegsbilder gibt es dann natürlich trotzdem genug. Alle Dörfer sind besetzt mit Kolonnen, Stäben, Reserven, letztere allerdings in lächerlich geringer Zahl. Franzosen sieht man selten, nur ganz alte Männer, alle anderen werden weggetrieben; teilweise unter Bedeckung zur Arbeit gezwungen: Dreschen und Kartoffelhacken. Frauen sind noch eine ganze Menge da, die von uns verpflegt werden müssen, da sie sonst längst verhungert wären; das Land ist bis zum Äußersten ausgesogen. In einer großen Scheune lagen mehr [sic!] 100 alte Männer, Frauen und Kinder auf Stroh, aus den beschossenen Dörfern, ein jammervolles Bild, besonders ein alter zittriger {Curé} von 80 Jahren und eine uralte völlig verschrumpfte Frau. Am tragischsten berührt mich die reiche Ernte, die auf den Feldern steht und ganz verdirbt. In der Gegend werden fast nur Rüben gepflanzt und gedeihen großartig, dazwischen etwas Weitzen [sic!] . Beides ist verloren. Armes Land! Die Häuser sind natürlich zum großen Teil wüst und leer, als [sic!] weggenommen und zerbrochen; wir selbst haben schon zwei Herde aus anderen Häusern requiriert, d. h. einfach genommen, da niemand da war, der ein Bon empfing. Betten, Schränke, alles ist weg. –| Merkwürdig ist oft der Gegensatz der Ruhe auf den Feldern, nur hier und da in der nebligen Dämmerung ein Reiter, und dem ungeheuren Geschehen, was auf diesen Feldern täglich sich vollzieht. Diese einsamen Umschaus sind das Großartigste der mancherlei Erlebnisse. – Meine geistliche Tätigkeit beläuft sich auf 4-5 Gottesdienste die Woche, je ½ St lang. Ich rede kräftig, aggressiv, aber immer stark mystisch-religiös und das verstehen sie nach dem, was ich bis jetzt erfahren habe. Ein Oberstleutnant, der vorher sehr schnodderig war, kam nach drei Tagen und bat um einen neuen Gottesdienst. Ich habe bis jetzt geredet vor der Bagage, einer Jägerkompagnie, einem Reservebataillon, morgen, Sonntag {eine} andere Jägerkompagnie und ein Kürassierregiment. Bei den Jägern hatte ich auf meine Bitte eine Kollekte von 180 M für die Ostpreußen, massenhaft 1 und 2 M-Stücke. Die geistliche Versorgung ist übrigens jetzt völlig ausreichend. Öfter als 8 Tage kann man unter keinen Umständen an dieselben Leute. Die Lazarette, auch das hier im Dorf, haben einen eigenen Geistlichen. Dazu kommen wir also gar nicht. Einzelseelsorge ist kaum möglich. Daß es vorher überhaupt nicht viel Möglichkeiten gab, lag an den Märschen. Das Geschrei ist also nicht ganz begründet gewesen. Und doch solltest Du hier sein! Grüß mein liebes liebes l! Lies den Brief m vor und schicke ihn an n und o!

Dein tr. p.

Fußnoten, Anmerkungen

Register

aBieuxy
bFritz, Alfred
cMagdeburg
dSchafft, Hermann
eBelgien
fFrankreich
gAhrens, ???
hBelgien
iFrankreich
jTartiers
kAisne (Fluss)
lFritz, Johanna
mTillich, Margarete
nTillich, Johannes Oskar
oTillich, Marie
pTillich, Paul

Überlieferung

Signatur
USA, Cambridge, MA, Harvard University, Harvard Divinity School Library, Tillich, Paul, 1886-1965. Papers, 1894-1974., bMS 649/184(6)
Typ

Brief, eigenhändig

Postweg
Bieuxy - unbekannt
voriger Brief in der Korrespondenz
Brief von Paul Tillich an Friedrich Büchsel vom August 1908
nächster Brief in der Korrespondenz
Brief von Alfred Fritz an Paul Tillich vom 11. Dezember 1929

Entitäten

Personen

Orte

Zitiervorschlag

Brief von Paul Tillich an Alfred Fritz vom 17. Oktober 1914, in: Paul Tillich, Korrespondenz. Digitale Edition, hg. von Christian Danz und Friedrich Wilhelm Graf. https://tillich-briefe.acdh.oeaw.ac.at/L00398.html, Zugriff am ????.

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