Brief von Paul Tillich an Johannes Tillich vom 15. Oktober 1914

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Der editierte Text

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a, den 15ten Oktober 1914.
Lieber b!

Spannende Kriegsnovellen kann ich leider noch nicht schreiben. Was passiert ist, wißt Ihr im Wesentlichen aus meinen Karten-Telegrammen.1 Statt dessen einige Skizzen, wie dies auch der geruhsamen Lage hier entspricht… Erst einmal eine Skizze der geographischen Lage. [Darstellung: Skizze der Frontlinie mit Orten und Lage der Divisionen und Schützengräben.] In den Schützengräben, die ich gezeichnet habe, liegen die Franzosen, nördlich der Aisne. 300 m nördlich von ihnen sind unsere Schützengräben. Der Halbkreis, der demnach eine Ausbuchtung gegen den Feind bedeutet, wird von unserem IV. Reserve-Korps gehalten. In c liegt die Divisi VII Reserve-Division, zu der ich gehöre. Vorn auf den Punkten, die ich gezeichnet habe, liegt die 13te und 14te Brigade, aus denen unsere Division besteht. Wir haben täglich Artilleriekampf, natürlich auch Nachts, hin und wieder auch Infanteriekampf. Wesentliches geschieht nicht. Jetzt sollen Inder uns gegenüber stehen, wenigstens wird es aus den Schützenlinien gemeldet. Abends gehe ich oft auf die Höhen und sehe dann im Halbkreis die Kanonen blitzen, die Leuchtpistolen und Scheinwerfer aufleuchten, und die Dörfer brennen. Es ist| ein großartig unheimliches Bild. Den Kanonendonner hören wir kaum mehr, so sind wir daran gewöhnt. Ich habe Nachts die stärksten Kanonaden überschlafen. Dabei können wir hinter unserm Hause die Kugeln genau in ihren Bahnen zischen hören und einschlagen sehen, oft nur 1 km von unserm Nachbarort. Natürlich ist es unmöglich, sich den Schützenlinien zu nähern; selbst die Offiziere tun es nur im Schutze der Nacht und in Feuerpausen. Tote und Verwundete gibt es selten. In der Kirche liegen etwa 20. Alles stagniert. – d ist ein Gutshof mit Arbeiterhäusern. Das Gut ist einfach und gut gebaut. Die Bauern- resp. Arbeiterhäuser haben folgende Form [Darstellung: Skizze eines treppenförmigen Dachgiebel.] Dies die Steingiebel, die fast jedes Haus hat; von der einen Stufe des Giebels zur gegenüberliegenden sind die Balken gelegt. Im Inneren sind die Fußböden gepflastert, die Wände ohne Tapete und Farbe und die Decken gekalkte Balken mit Zwischenräumen, alles roh und ungemütlich. In einem solchen Haus schlafe ich, bisher auf einem Strohsack auf dem Fußboden, jetzt in einem Schrank,| der auf Steine gestellt ist, und auf diese Weise ein riesiges Bauernbett repäsentiert [sic!] , beides aber ein Luxus gegen das Stroh des Pferdewagens, in dem ich während der Fahrt schlief, und wo der Tau die Innenwände herunterlief. Dabei fühle ich mich körperlich so wohl wie nie zuvor, täglich frischer und kräftiger, Erkältung und dergl. verschwunden. In jedem Dorf gibt es Häuser, von denen nur die beiden Giebel stehen, das Übrige verfallen; neue Häuser sieht man nie: Eine sichtbare Konsequenz des Zwei-Kinder-Systems. Die französische Bevölkerung ist sehr liebenswürdig, verfehlt nie, zu grüßen, sagt immer richtig Bescheid und wird von uns ernährt. Die ungeheuren Rübenfelder e werden nicht geerntet, da es junge Männer nicht gibt; auch Weizen verdirbt in Massen: Ein tragisches Bild. – Meine ersten Gottesdienste: Der erste in einer natürlich überfüllten wundervollen romanischen Dorfkirche vor der Bagagetruppe und mehreren Offizieren. Erst Einführung von Kollege f, g (48 Jahre, fein| klug, geschickt, liebenswürdig, sehr angenehm, eisernes Kreuz). Die beiden andern heut vor den Divisionen |:Brigaden:| in gedeckter Stellung zum Schutz gegen die feindliche Artillerie, eine Jägerbataillon|:kompanie:| und ein Bataillion [sic!] 66er. Von dem Jägerbataillon allein über 160 M Kollekte für h, fast jeder Mann hat 1 M gegeben; nur wenige Groschen. Die Offiziere selten unter 10 M; natürlich ist so etwas nur selten möglich. Bei der 14ten Brigade war der General i und der j dabei. Trotzdem ich bei den Brigaden immer im feindlichen Artilleriebereich bin, ist die Gefahr gering, da sie meistens in bestimmte Gegenden schießen und ich möglichst gedeckt reite, in offenen Stellungen in schnellem Trab. Jeder Leichtsinn ist ausgeschlossen. Mein k war am Montag bis Donnerstag verloren; heut habe ich ihn wiedergefunden und mit ihm mein Gepäck. Dieser Brief soll gehen 1) an Dich. 2) an l. 3) an m. 4) an den n, der schon einen eigenen Brief2 hat. 5) An Dich zurück.

Herzl. Gruß aus Feindesland,
Dein tr. o

Fußnoten, Anmerkungen

1Liegt nicht vor.
2Liegt nicht vor.

Register

aBieuxy
bTillich, Johannes Oskar
cBieuxy
dBieuxy
eNordfrankreich
fBackhaus, Alwin
gTorgau
hOstpreußen
iWinkowsky, ??? von
jKinzel, Eberhard
kSchröder
lTillich, Marie
mFritz, Alfred
nTillich, Margarete
oTillich, Paul

Überlieferung

Signatur
USA, Cambridge, MA, Harvard University, Harvard Divinity School Library, Tillich, Paul, 1886-1965. Papers, 1894-1974, bMS 649/193(12)
Typ

Brief, eigenhändig

Postweg
Bieuxy - unbekannt
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nächster Brief in der Korrespondenz
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Entitäten

Personen

Orte

Zitiervorschlag

Brief von Paul Tillich an Johannes Tillich vom 15. Oktober 1914, in: Paul Tillich, Korrespondenz. Digitale Edition, hg. von Christian Danz und Friedrich Wilhelm Graf. https://tillich-briefe.acdh.oeaw.ac.at/L00397.html, Zugriff am ????.

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