Der editierte Text

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Den 9. V. 18.
Lieber a!

Vor etwa 8 Tagen bekam ich das b von c. Es weht darin ein kräftiger Geist, etwas von dem, was ich an de so schätze, was f mit seinem Macht-Gedanken für Gott sagen will, es weht auch Geist der Mystik und meines geliebten g und vor allem der Geist darin, den der spätere h in die Formen seiner "positiven Philosophie" gebracht hat. Wie ich Dir schon schrieb, hat dieser Geist etwas unendlich Anheimelndes für mich! Mein alter Sinn fürs Irrationale, fürs Paradoxe, das Erlebnis Gottes als "Vischna" in die Formen des unerhörtesten Grausens, wie es dieser Krieg mir immer wieder gebracht hat, mein praktischer Irrationalismus, Antilogismus und Antimoralismus – – – – – – all das kommt i Gedanken mit offenen Armen entgegen. Ich weide mich an dem Bilde der sich immer senkrecht sträubenden Haare sämtlicher j beim Lesen dieser Lästerungen wider den heiligen Geist k und freue mich, daß ein Marburger Professor so Unerhörtes wagen darf! – – – – – –

Sachlich erkenne ich zunächst an, daß l bewußter Antisupranaturalist ist; damit ist der Boden gegeben, auf dem ich überhaupt verhandeln kann: das Numinose ist weder positiv noch negativ am Naturbegriff orientiert. Es ist freilich zweifelhaft, ob diese Position haltbar ist. Gehen wir einmal vom Wunderbegriff aus, den er gleichfalls mit erfreulicher Deutlichkeit antisupranaturalistisch faßt, so zeigt sich sofort, daß er ihn naturalisiert: das Wunder wird zum "Zeichen", und Zeichen kann alles werden, vor allem der Tod, für den, der das Gefühl des Numinösen [sic!] schon in sich trägt! Einverstanden, aber dieses Gefühl nun! Er nennt es eine Kategorie a priori im Geistesleben. Auch richtig! Das Religiöse gehört also in den Haushalt des Geisteslebens, aber damit ist es – wenigstens als Kategorie – naturalisiert. So käme es denn auf den| Gegenstand, auf den "Inhalt" der Kategorie an; ich habe Dir schon meine Bedenken gegen das formal Naturale, inhaltlich Ex-Naturale geschrieben; doch lassen wir einmal diese Bedenken! Das Numinöse [sic!] soll über den Gegensatz von Natürlich und Übernatürlich stehen, wie bei m das Über-Seiende jenseits des Gegensatzes von Sein und Nichtsein steht! Aber auch n kann ja nicht anders als sagen: "das Überseiende ist", der Zwang der Kategorialisierung führt zur Naturalisierung. Und o muß sagen, "das Numinöse [sic!] ist", eben damit ist es aber ein Moment in der Sphäre des Seienden (die einzige, die "es gibt", die "ist"). Der Vergegenständlichung durch das Existentialurteil entgeht nichts! Das Gleiche gilt nun für das, was p den "Seelengrund" und q die "Seele" im Unterschiede vom Geist nennt, das Organ für das Numinöse [sic!] in uns. Es wird erlebt in Bewusstseinsvorgängen, vor allem in Gefühlen, und ist damit ein Gegenstand der Gefühlspsychologie, die es einordnen muss in den Komplex des Seelenlebens überhaupt. Hier gibt es kein Entweichen. Damit tritt auch hier eine (psychologische) Naturalisierung ein (die natürlich mit naturalistischer Psychologie gar nichts zu tun hat). – – – – – Aus all dem ziehe ich nun den Schluss: das Erlebnis, das r, die Mystik, die s etc. beschreiben, ist entweder ein natürlich-psychologischer Vorgang, veranlaßt durch eine natürliche Ursache, die prinzipiell erklärbar und einfügbar ist in das natürliche Universum (etwa im t Sinne) – wie wir es auch von telepathischen oder dgl., zweifellos tatsächlichen Dingen behaupten, oder es handelt sich überhaupt nicht um einen besonderen Gegenstand, sondern um einen besonderen Sinn, den Sinn des Gegenstandes "Welt". Eben dieses ist nun meine Meinung. Geistiges Leben ist Leben im Sinn oder unablässige schöpferische Sinngebung. So geben wir der Welt einen logischen- ethischen- ästhetischen, so auch einen religiösen Sinn. Diese Sinngebung ist| bei der Mehrheit der Menschen und bei allen in der meisten Zeit unmittelbar. Bewußt wird sie nur in einzelnen Momenten, schöpferisch nur in einzelnen Persönlichkeiten. Wir müssen also auch auf religiösem Gebiet unterscheiden zwischen unbewusster, bewusster und schöpferischer Religiosität. Unbewusst ist jeder religiös, bewusst der Fromme, schöpferisch der Prophet. (Davon zu unterscheiden der "Heilige", der nicht Prophet, nicht einmal Frommer zu sein braucht)

Soweit gehen die Analogien; nun aber liegt es im Sinn des Religiösen, sich in einem Doppelverhältnis des Gegensatzes und der Einheit zu den übrigen Kategorien zu wissen. Ich hatte in u Wertbewusstsein und Unendlichkeitsbewusstsein als primär religiöse Gefühle bezeichnet, und das Wertbewusstsein mit dem "Fremden" von Dir gleichgesetzt. Ich glaube, daß dies Deine Meinung nicht ganz getroffen hat. "Wert" und "Sinn" ergeben sich bei tieferer Analyse als identische Begriffe. Wertbewusstsein betrifft also die ganze geistige Sphäre. Dennoch war es richtig, auch dieses Sinn- oder Wertbewusstsein als etwas "Fremdes" zu bezeichnen, fremd nämlich dem bloß Faktischen! Das was Du meinst, wird zweifellos eher getroffen durch das von mir zögernd angewandte "Unendlichkeitsbewusstsein" – zögernd wegen seines fatalen negativ-supranaturalistischen Klanges. Es wären demnach drei Sphären zu unterscheiden: die des Tatsächlichen, die des Sinnes oder Wertes und die des Religiösen oder Unendlichen oder Numinösen [sic!] ! Es handelt sich immer um dasselbe Sein, aber jedesmal mit einem anderen Charakter. Das erstemal das rein Gegebene, Gegenständliche, das zweitemal das Sinn[-] und Wertvolle, das drittemal das innerlich Unendliche oder Numinöse [sic!] . Also nicht eine neue Gegenständlichkeit ist das Numinöse [sic!] , sondern eine neue Tiefe oder Offenbarung des Seins. – Nun kann die höhere Stufe niemals von der| niedrigeren aus erfaßt werden, der Wert ist der Tatsächlichkeit ebenso umfassbar, wie das Numen dem Wert. Die Abbild-Theorie im Logischen sowie die Lust-Theorie im Ethischen, Aesthetischen (und Religiösen) sind Versuche, dem Wert vom Gegenstand aus beizukommen. Kantianismus, Hegelianismus Versuche, das Religiöse vom Wert aus zu verstehen. Das meint wohl v damit, wenn er alles Ausserreligiöse "rational" nennt. Mir ist dieser Ausdruck problematisch, da in aller Wertwissenschaft schon ein irrationales, intuitives Moment enthalten ist, und der Wert vom Standpunkt des Faktischen genau so irrational ist, wie das Numen vom Standpunkt des Wertes! Daraus ergibt sich nun der Zwang zur Rationalisierung des Numinösen [sic!] , erstens vom Faktischen aus: "das Numinöse [sic!] ist" die Vergegenständlichung; dann vom Wert aus: "das Numinöse [sic!] ist absoluter Wert". Aus diesen beiden Sätzen ergibt sich dann der ganze Mythus, der in fortgeschrittener Rationalisierung Dogma und schliesslich Metaphysik ist. Die Inadäquatheit dieser Erfassungsformen kommen zum Ausdruck in den logischen Widersprüchen, die jedem Dogma charakteristisch anhaften und die durch Machtsprüche des religiösen Bewusstseins zur Wirkungslosigkeit gebracht werden; vor allem auch in Ausdrücken wie w: Gott "ist" nicht, x: Gott ist der Überseiende, Mystiker: Gott ist überschwengliches Sein u. s. f. – –

Von hier aus wird nun auch mein scharfer Protest gegen jeden Supranaturalismus verständlich: Der Mythus ist die unmittelbare und notwendige Objektivierungsform des religiösen Erlebens; er ist naiv supranaturalistisch oder vielmehr er hat diesen Gegensatz noch gar nicht in sich. Das Numen gehört zur Welt, wenn es auch ein anderes als alles in ihr ist! Im Dogma wird der Supranaturalismus bewusst, und damit verzerrt; es entsteht die neue Gegenstandswelt der göttlichen Dinge über den natürlichen; es werden logische Verbindungen oder Gegensätze konstatiert, die alle dialektisch unmöglich sind,| aber ihre Unmöglichkeit nicht durchschauen. Daraus entsteht dann die dogmenkritische Philosophie, die das Göttliche zur höchsten immanenten Kategorie, zur "Kategorie der Kategorien" macht, und damit zwar die Wertsphäre des Erkennens zum Abschluß gebracht hat, aber das Göttliche verloren! Dagegen wandte sich vornehmlich mein y. Denn diese Entwicklung ist eine notwendige Konsequenz der logisch gemeinten Vergegenständlichung des Göttlichen in einen Seienden. Das Göttliche ist Sinn, nicht Sein, und es ist "anderer Sinn". Damit ergibt sich nun die Frage nach dem Verhältnis des religiösen Wertes zu den übrigen. Um das zu verstehen, muss zunächst das Verhältnis von Sein und Sinn noch einmal beleuchtet werden: Auch das Sein, das "rein Tatsächliche" ist ja ein Begriff, ist also gesetzt vom logischen Sinnzusammenhang, ist Sinn- oder Wertprodukt. Der Sinn setzt das Sein als sein "anderes", an dem er sich realisiert. Ebenso setzt der Sinn das Göttliche als sein "anderes", von dem er sich realisiert weiss. So begrenzt sich der Sinn durch das Sein und das Ueberseiende! Beide aber sind Sinn-Setzungen. Das Sein kann nicht wieder "sein", und das Ueberseiende hat sein Wesen darin, nicht zu sein! Ich lehre also den Monismus des Sinnes, der sich nach zwei Seiten den Widersinn, das Irrationale entgegensetzt, das Sein und das Uebersein! Wie nun das Existentialurteil allen anderen immanent ist, und nur durch Abstraktion ein Urteil für sich wird, so ist das Religiöse keine Kategorie neben den anderen, sondern ihnen immanent als ihr Widerspruch und ihre Voraussetzung zugleich. Es ist das absolute Existentialurteil entsprechend dem absoluten Sinn-Bewußtsein. So schliessen sich, wie zu fordern war, die beiden Irrationalitäten zu der einen des Existentialurteils zusammen, das für den Sinn zugleich Erfüllung und Widersinn ist. Daher die überwältigende, Sinn- und Wertvernichtende [sic!] Faktivität des Göttlichen, daher das Religiöse| als "Philosophie des Todes", daher auch das Nachlassen der Religion in kulturell bewussten Zuständen und das ungeheure Problem der Religion "ausserhalb" der Grenzen der reinen Vernunft. So weit dieses Mal. Ich glaube, wir sind uns näher gekommen! Dem Buch danke ich viel!

Dir alles Gute und vielleicht bald auf Wiedersehen!
Dein z.

Fußnoten, Anmerkungen

Register

aHirsch, Emanuel
bOtto, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhä..., 1917
cOtto, Rudolf
dSchlatter, Adolf
eLütgert, Wilhelm
fSchaeder, Erich
gBöhme, Jakob
hSchelling, Friedrich Wilhelm Joseph
iOtto, Rudolf
jRitschl, Albrecht
kKant, Immanuel
lOtto, Rudolf
mSchelling, Friedrich Wilhelm Joseph
nSchelling, Friedrich Wilhelm Joseph
oOtto, Rudolf
pOtto, Rudolf
qSchelling, Friedrich Wilhelm Joseph
rOtto, Rudolf
sSchelling, Friedrich Wilhelm Joseph
tHegel, Georg Wilhelm Friedrich
uBrief von Paul Tillich an Emanuel Hirsch vom 20. Februar 1918
vOtto, Rudolf
wFichte, Johann Gottlieb
xSchelling, Friedrich Wilhelm Joseph
yBrief von Paul Tillich an Emanuel Hirsch vom 20. Februar 1918
zTillich, Paul

Überlieferung

Signatur
USA, Cambridge, MA, Harvard University , Harvard Divinity School Library, Tillich, Paul, 1886-1965. Papers, 1894-1974, bMS 649/152(54)
Typ

Brief, als maschinenschriftliche Abschrift überliefert

Postweg
unbekannt - unbekannt
voriger Brief in der Korrespondenz
Brief von Paul Tillich an Emanuel Hirsch vom 20. Februar 1918
nächster Brief in der Korrespondenz
Brief von Emanuel Hirsch an Paul Tillich vom 22. Mai 1918

Entitäten

Personen

Literatur

Briefe

Zitiervorschlag

Brief von Paul Tillich an Emanuel Hirsch vom 9. Mai 1918, in: Paul Tillich, Korrespondenz. Digitale Edition, hg. von Christian Danz und Friedrich Wilhelm Graf. https://tillich-briefe.acdh.oeaw.ac.at/L00568.html, Zugriff am ????.

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L00568.pdf