Lieber Emanuel!
Vor etwa acht Tagen bekam ich das Buch von Otto. Es weht
darin ein kräftiger Geist, etwas von dem, was ich an Schlatter–Lütgert so schätze, was Schäder mit seinem
Macht-Gedanken für Gott sagen will, es weht auch Geist der Mystik und meines
geliebten Jakob Böhme und vor
allem der Geist darin, den der spätere Schelling in die Formen seiner "positiven Philosophie" gebracht
hat. Wie ich Dir schonschrie schrieb, hat dieser Geist etwas
unendlich Anheimelndes für mich! Mein alter Sinn fürs Irrationale, fürs Paradoxe,
das
ErlebnisGotte Gottes als "Vischnu" in die Formen des
unerhörtesten Grausens, wie es dieser Krieg mir immer wieder gebracht hat, mein
praktischer Irrationalismus, Antilogismus und Antimoralismus –---- all das kommt Ottos Gedanken mit offenen Armen
entgegen. Ich weide mich an dem Bilde der sich immer senkrecht sträubenden Haare
sämtlicher Ritschlianer beim
Lesen dieser Lästerungen wider den heiligen Geist Kants und freue mich, daß ein Marburger Professor so Unerhörtes
wagen darf! –----
Sachlich erkenne ich zunächst an, daß Otto bewußter Antisupranaturalist ist; damit ist der Boden
gegeben, auf dem ich überhaupt verhandeln kann: das Numinöse ist weder positiv noch
negativ am Naturbegriff orientiert. Es ist freilich zweifelhaft, ob diese Position
haltbar ist. Gehen wir einmal vom Wunderbegriff aus, den er gleichfalls mit
erfreulicher Deutlichkeit antisupranaturalistisch faßt, so zeigt sich sofort, daß
er
ihn naturalisiert: das Wunder wird zum "Zeichen", und Zeichen kann alles werden, vor
allem der Tod, für den, der das Gefühl des Numinösen schon in sich trägt!
Einverstanden, aber dieses Gefühl nun! Er nennt es eine Kategorie a priori im
Geistesleben. Auch richtig! Das Religiöse gehört also in den Haushalt des
Geisteslebens, aber damit ist es – wenigstens als Kategorie – naturalisiert. So käme
es denn auf den |
Gegenstand, auf den "Inhalt" der Kategorie an; ich habe
Dir schon meine Bedenken gegen das formal Naturale, inhaltlich Ex-Naturale
geschrieben; doch lassen wir einmal diese Bedenken! Das Numinöse soll über den
Gegensatz von Natürlich und Übernatürlich stehen, wie bei Schelling das Über-Seiende
jenseits des Gegensatzes von Sein und Nichtsein steht! Aber auch Schelling kann ja nicht anders
als sagen: "das Überseiende ist", der Zwang der Kategorialisierung führt zur
Naturalisierung. Und Otto muß
sagen: "das Numinöseisz
↓ist↓", eben damit ist es aber ein Moment in der Sphäre
des Seienden (die einzige, die "es gibt", die "ist"). Der Vergegenständlichung durch
das Existentialurteil entgeht nichts! Das Gleiche¿¿¿ gilt nun
für das, was Otto den
"Seelengrund" und Schelling die
"Seele" im Unterschiede vom Geist nennt, das Organ für das Numinöse in uns. Es ↓wird↓ erlebt in Bewusstseinsvorgängen, vor allem in
Gefühlen, und ist damit ein Gegenstand der Gefühlspsychologie, die es einordnen muss
in den Komplex des Seelenlebens überhaupt. Hier gibt es kein Entweichen. Damit tritt
auch hier eine (psychologische) Naturalisierung ↓ein↓wie (die natürlich mit naturalistischer Psychologie gar nichts zu
tun hat). –---- Aus all dem ziehe ich nun den Schluss: das Erlebnis, das Otto, die Mystik, die Schelling etc. beschreiben, ist
entweder ein natürlich-psychologischer Vorgang, veranlaßt durch
eine natürliche Ursache, die prinzipiell erklärbar und einfügbar ist in das
natürliche Universum (etwa im Hegelschen Sinne) – wie wir es auch von telepathischen oder dgl., zweifellos
tatsächlichen Dingen behaupten,oder
oder es handelt sich überhaupt nicht um einen besonderen
Gegenstand, sondern um einen besonderen Sinn, den Sinn des
Gegenstandes "Welt". Eben dieses ist nun meine Meinung. Geistiges Leben ist Leben
im
Sinn oder unablässige schöpferische Sinngebung. So geben wir der Welt einen logischen
– ethischen – ästhetischen, so auch einen religiösen Sinn. Diese Sinngebung ist |
bei der Mehrheit der Menschen und bei allen in der meisten Zeit
unmittelbar. Bewußt wird sie nur in einzelnen Momenten, schöpferisch nur in einzelnen
Persönlichkeiten. Wir müssen also auch auf religiösem Gebiet unterscheiden zwischen
unbewusster, bewusster und schöpferischer Religiosität. Unbewusst ist jeder religiös,
bewusst der Fromme, schöpferisch der Prophet. (Davon zu unterscheiden der "Heilige",
der nicht Prophet, nicht einmal Frommer zu sein braucht)
Soweit gehen die Analogien; nun aber liegt es im Sinn des Religiösen, sich in einem
Doppelverhältnis des Gegensatzes und der Einheit zu den übrigen Kategorien zu wissen.
Ich hatte in meinem vorigen Brief Wertbewusstsein und Unendlichkeitsbewusstsein als
primär religiöse Gefühle bezeichnet, und das Wertbewusstsein mit dem "Fremden" von
Dir gleichgesetzt. Ich glaube, daß dies Deine Meinung nicht ganz getroffen hat.
"Wert" und "Sinn" ergeben sich bei tieferer Analyse als identische Begriffe.
Wertbewusstsein betrifft also die ganze geistige Sphäre. Dennoch war es richtig, auch
dieses Sinn- oder Wertbewusstsein als etwas "Fremdes" zu bezeichnen, fremd nämlich
dem bloß Faktischen! Das, was Du meinst, wird zweifellos eher getroffen durch das
von
mir zögernd angewandte "Unendlichkeitsbewusstsein" – zögernd wegen seines fatalen
negativ-supranaturalistischen Klanges. Es wären demnach drei Sphären zu
unterscheiden: die des Tatsächlichen, die des Sinnes oder Wertes und die des
Religiösen oder Unendlichen oder Numinösen! Es handelt sich immer um dasselbe Sein,
aber jedesmal mit einem anderen Charakter. Das erstemal das rein Gegebene,
Gegenständliche, das zweitemal das Sinn- und Wertvolle, das drittemal das innerlich
Unendliche oder Numinöse. Also nicht eine neue Gegenständlichkeit ist das Numinöse,
sondern eine neue Tiefe oder Offenbarung des Seins.- Nun kann die höhere Stufe
niemals von der |
niedrigeren aus erfaßt werden, der Wert istdie
↓der↓ Tatsächlichkeit ebenso umfassbar, wie das Numen
dem Wert. Die Abbild-Theorie im Logischen sowie die Lust-Theorie im Ethischen,
Aesthetischen (und Religiösen) sind Versuche, dem Wert vom Gegenstand aus
beizukommen. Kantianismus, Hegelianismus Versuche, das Religiöse vom Wert aus zu
verstehen. Das meint wohl Otto
damit, wenn er alles Ausserreligiöse "rational" nennt. Mir ist dieser Ausdruck
problematisch, da in aller Wertwissenschaft schon ein irrationales, intui- tives
Moment enthalten ist, und der Wert vom Standpunkt des Faktischen genau so irrational
ist wie das Numen vom Standpunkt des Wertes! Daraus ergibt sich nun der Zwang zur
Rationalisierung des Numinösen, erstens vom Faktischen aus: "das Numinöse ist" die
Vergegenständlichung; dann vom Wert aus: "das Numinöse ist absoluter Wert". Aus
diesen beiden Sätzen ergibt sich dann der ganze Mythus, der in fortgeschrittener
Rationalisierung Dogma und schliesslich Metaphysik ist. Die Inadäquatheit dieser
Erfassungsformen kommen zum Ausdruck in den logischen Widersprüchen, die jedem Dogma
charakteristisch anhaften und die durch Machtsprüche des religiösen Bewusstseins zur
Wirkungslosigkeit gebracht werden; vor allem auch in Ausdrücken wie Fichte: Gott "ist" nicht, Schelling: Gott ist der
Überseiende, Mystiker: Gott ist überschwengliches Sein usf. –-
Von hier aus wird nun auch mein scharfer Protest gegen jeden Supranaturalismus
verständlich: Der Mythus ist die unmittelbare und notwendige Objektivierungsform des
religiösen Erlebens; er ist naiv supranaturalistisch oder vielmehr er hat diesen
Gegensatz noch gar nicht in sich. Das Numen gehört zur Welt,nenn
↓wenn↓ es auch ein anderes als alles in ihr ist! Im
Dogma wird der Supranaturalismus bewusst, und damit verzerrt; es entsteht die neue
Gegenstandswelt der göttlichen Dinge über den natürlichen; es werden logische
Verbindungenund
↓oder↓ Gegensätze konstatiert, die alle dialektisch unmöglich
sind, |
aber ihre Unmöglichkeit nicht durchschauen. Daraus entsteht dann die
dogmenkritische Philosophie, die das Göttliche zur höchsten immanenten Kategorie,
zur
"Kategorie der Kategorien" macht, und damit zwar die Wertsphäre des Erkennens zum
Abschluß gebracht hat, aber das Göttliche verloren! Dagegen wandte sich vornehmlich
mein letzter Brief. Denn diese Entwicklung ist eine notwendige Konse- quenz der
logisch gemeinten Vergegenständlichung des Göttlichen in einen Seienden. Das
Göttliche ist Sinn, nicht Sein, und es ist "anderer Sinn". Damit ergibt sich nun die
Frage nach dem Verhältnis des religiösen Wertes zu den übrigen. Um das zu verstehen,
muss zunächst das Verhältnis von Sein und Sinn noch einmalbewusst
werden beleuchtet werden: Auch das Sein, das "rein Tatsächliche" ist ja ein
Begriff, ist also gesetzt vom logischen Sinnzusammenhang, ist Sinn- oder Wertprodukt.
Der Sinn setzt das Sein als sein "anderes", an dem er sich realisiert. Ebenso setzt
der Sinn das Göttliche als sein "anderes", von dem er sich realisiert weiss. So
begrenzt sich der Sinn durch das Sein und das Ueberseiende! Beide aber sind
Sinn-Setzungen. Das Sein kann nichtweider
↓wieder↓ "sein", und das Ueberseiende hat sein Wesen
darin, nicht zu sein! Ich lehre also den Monismus des Sinnes, der sich nach zwei
Seiten den Widersinn, das Irrationale entgegensetzt, das Seinist
↓und↓ das Uebersein! Wie nun das Existentialurteil allen
anderen immanent ist, und nur durch Abstraktion ein Urteil für sich wird, so ist das
Religiöse keine Kategorie neben den anderen, sondern ihnen immanent als ihr
Widerspruch und ihre Voraussetzung zugleich. Es ist das absolute Existentialurteil
entsprechend dem absoluten Sinn-Bewußtsein. So schliessen sich, wie zu fordern war,
die beiden Irrationalitäten zu der einen des Existentialurteils zusammen, das für
den
Sinn zugleich Erfüllung und Widersinn ist. Daher die überwältigende, Sinn- und
Wertvernichtende Faktizität des Göttlichen, daher das Religiöse |
als
"Philosophie des Todes", daher auch das Nachlassen der Religion in kulturell
bewussten Zuständen und das ungeheure Problem der Religion "ausserhalb" der Grenzen
der reinen Vernunft. So weit dieses Mal. Ich glaube, wir sind uns näher gekommen!
Dem
Buch danke ich viel!