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D. 20. Feb. 19171]

Lieber Emmanuel!

Verzeih, daß ich mit einem Kompliment beginne: Dein Brief2] ist das Tiefste, was seit Schellings "posiver Philosophie" ein Theologe geschrieben hat! Wie zwergenhaft erscheinen zwischen solchen Höhen die dazwischen liegenden Geschlechter der systematischen Theologen, Tröltsch nicht ausgenommen! Ich bin stolz, daß ich die Ehre habe, als erster gegen diese Höhe anrennen zu dürfen, ganz gleich, ob es zum Sieg oder zur Niederlage oder zu einem Dritten führt! Ich fühle mich berechtigt, gegen Dich zu kämpfen, denn nicht umsonst stand mein bisheriges wissenschaftliches Leben unter der Führung Schellings.3] Ich denke noch daran, wie ich, aus der Frühlingsstimmung und dem Frühlingszauber der Naturphilosophie kommend, von der düsteren Kraft der "positiven Philosophie" gepackt wurde, und wie mich der große Satz, der diese ganze Philosophie beherrscht: "deitas est dominatio dei" "Gott ist der Herr" tief religiös erschütterte. Und dann kam die ratio, und erst deutete ich Schelling II | aus Schelling I4], dann verließ ich ihn, ging zu Hegel – und schließlich zu Nietzsche. Aus Deinem Brief5] wehte der Hauch jener Tage mir entgegen, darum verstehe ich ihn so tief! – Es war gut so; erst mußte das Prinzip des ersten Schelling sich ganz in mir auswirken, es mußte die Formen der modernen Philosophie annehmen und sich zu dem Prinzip der autonomen Lebens-Immanenz verdichten, wie es in der ganzen modernen Litteratur und Dichtung widerklingt. – – –

Ich lebe in diesem Prinzip und suche mich immer tiefer hineinzuleben in seinen drei wichtigsten Momenten: Autonomie statt Beugung; Leben statt Selbstaufgabe, Immanenz statt Transscendenz! Und nun kommst Du und rufst mir zu: Vergiß nicht Schelling II! Habe ich ihn vergessen? Niemals ganz, sonst hätte ich schon vor Jahren, d. h. zur Zeit meiner Ausarbeitung der "Dogmatik" (1914) da gestanden, wo ich jetzt stehe, und würde nicht auch heute noch dem Mißtrauen von Wegener und v. Sydow | gegenüberstehen, oder vielmehr etwas ihnen Fremdes in mir fühlen. Als ich in diesem Januar mit Wegener bei "Trarbach" eine große Debatte über meine religionsphilosophische Stellung hatte, versuchte ich, außer dem "relativen Transscendieren" das ich in jedem Geistesleben sehe, noch ein "absolutes Transscendieren" zu statuieren, das in einer negativen Stellung zur gesamten Kulturbegründet ist gipfelt, und seine Begründung allein in dem "Über-Geistesbewußtsein" der Persönlichkeit hat. Auch wirst Du Dich an die eschatologische Stimmung der ersten Kriegsjahre erinnern, wo ich Dir schrieb: "Ich habe die Persönlichkeit gefunden" und Du mir antwortetest: "Dann habe ich Dir nichts mehr zu sagen." Du siehst, in mir selbst ist etwas, das dem rationalen Prinzip zuwider ist, dagegen anrennt und doch Schritt für Schritt weichen mußte. Und gleichsam bist Du mir die Objektivation dieses Prinzips, das auch bei Dir besser aufgehoben ist, zumal in | der gegenwärtigen Lage. Wenn ich also jetzt gegen Dich kämpfe, so ist es die Objektivierung dieses Kampfes in mir, und was ich gegen Dich sage, sind die machtvollen Waffen, mit denen das rationale Prinzip sich in mir Sieg auf Sieg errungen hat! – – – –

Es gibt eine flachköpfige Rede, daß die 'menschliche Vernunft aus architektonisch-ästhetischen Gründen monistisch sei'. Sie ist es aber so notwendig, daß ihre Existenz daran hängt. Angenommen, sie bejahte die denkbar größte Dualität, so würde doch sie es immer sein, die bejaht, und da sie nicht über ihren Schatten springen kann, nach ihres Wesens Gesetz bejaht. Das "Gedachtsein" ist das "monistische" Band, das selbst noch größere Gegensätze als die von Himmel und Erde verbinden würde. Was das im einzelnen heißt, habe ich in meiner Supranaturalismus-Arbeit durchgeführt. Ich habe dort versucht, eine „Dialektik des Supra“ zu geben.(Forts. folgt) P.

| Der Gedankengang war folgender: Das Supra ist erstens eine Negation, ein Non-A; ist nun A die Totalität alles Immanenten, so wird das "Supra" inhaltslos; einen Inhalt gewinnt es nur durch Anleihe des von ihm negierten A; dadurch wird es nun entweder ein verblaßtes Abbild von A (die transscendente Welt), oder es wird selbst ein Teil von A durch Eingehen in die Gesetze der Immanenz (Wunder – Inspiration, Offenbarung) oder es wird eine Beurteilungsform von A (Gott = die Welt als Unbedingtes betrachtet). – – – Kein theologischer Gedanke hat sich mir so gleichmäßig seitdem bestätigt, wie dieser. Obgleich jene Arbeit formell so schlecht gelungen ist, daß ich sie nicht veröffentlicht habe, ist es die einzige, deren Positionen ich unverändert anerkenne. Fast ungewollt haben sie sich mir überall aufgedrängt, und die ganze Kritik von Feuerbach hat mir nicht nur nichts Neues gegeben, sondern mich von der größeren Schärfe und Systematik meiner | Kritik überzeugt. – – – Du wirst natürlich die Bezeichnung des Supranaturalismus im üblichen Sinne mit Recht ablehnen. Aber es ist etwas, worin Ihr übereinstimmt, und was unter meine Kritik fällt: Das "zweite" Erlebnis; das Erlebnis des „Fremden“; die Kritik hat doppelseitig zu sein, erstens gegen das "zweite" Erlebnis, zweitens gegen das Erlebnis des "Fremden"; das erste ist mehr subjektiv, das zweite mehr objektiv.

Zwei Erlebnisse können sich so verhalten, daß sie in einer Reihe stehen, die prinzipiell noch mehrere zuläßt, oder sie sind einzigartig, und stehen unter einem Gesichtspunkt von dem aus verständlich wird, daß sie notwendig, und zugleich einzig möglich sind. Die erste Reihe ist rein empirisch, die zweite transscendental-deduktiv; aber auch die erste Reihe hat einen Gesichtspunkt, der es notwendig macht, aus den verschiedenen Erlebnissen eine Reihe zu machen. Fiele auch diese Möglichkeit | hin, so wäre die Einheit des Bewußtseins gesprengt, zwei reine Heterogenitäten hätten es zerstört; dann bliebe aber nicht einmal die Möglichkeit von Erlebnissen zu reden, da diese Rede die Einheit des erlebenden Bewußtseins voraussetzt. Unter allen Umständen muß also ein Punkt dasein, von dem aus beide Erlebnisse zu betrachten sind. Nun ist laut Deiner Definition das erste das der Totalität des Geisteslebens, jedes andere stände dazu in dem Verhältnis des "Supra" und verfiele der Dialektik des "Supra". In doppelter Beziehung kann ich das in Deinen Worten zeigen. Du sagst, der Geist sei nur die Form, die das Gotteserlebnis aufnehme, der Inhalt stamme nicht von ihm. Diese Trennung von Form und Inhalt aufgehoben zu haben, ist nun aber das Verdienst der modernen philosophischen Entwicklung, insonderheit Kants. In den Geist kann nichts hinein, was nicht aus ihm kommt, denn er ist niemals leere Form, sondern immer lebendige Aktualität. Er ist in | sich unendlich und zieht alles in sich hinein. Deutliche Analogie zu Deiner These (die natürlich sehr viel höher steht), ist der Inspirationsgedanke, der faktisch den Geist entweder zerbricht oder von ihm überwunden wird. Die Inspiration geschieht in Begriffen; sind diese nicht leere Wortbildungen, so sind sie sinnvolle Zusammenhänge, die stetig fortleiten zu dem Gesamtzusammenhang des Begreifens – – –. Aber Dein Gedanke zerbricht nicht nur die intellektuelle Seite des Geistes, sondern – ausdrücklich – auch die sittliche Autonomie. Und doch könnte dieses "Beugen", von dem Du sprichst, nie sittlich sein, wenn es sich dem Gewissen nicht bezeugte, d. h. wenn es nicht selbst die Form der Autonomie annähme. Dann ist also diese doch die letzte Instanz und der Geist, vor dem "Fremden" sich beugend, bleibt doch in sich. – Hier ist die Analogie das Wunder, das äußere und innere: das Gesetz der Natur oder der Seele wird aufgehoben um einem anderen Platz zu machen, was dann doch wieder Natur und Seele ist. (Forts. folgt)

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Das Gleiche gilt nun für die objektive Seite: Gott ist das "Fremde"; das dem Geiste Fremde, das An-Sich; aber von diesem Fremden macht der Geist Aussagen; er nennt es Gott; und er versteht etwas unter diesem Wort, es ist ein Begriff im System der Begriffe: Bei Dir der Begriff des "anderen Absoluten". Du sagst vielleicht, das ist nicht Begriff sondern Erlebnis. Ich kann mir dabei nichts denken; denn jedes Erlebnis hat doch einen Charakter, einen Unterschied, also ein Verhältnis zum Begriff; und Du präcisierst es ja auch ganz scharf, ja gerade sein Unterschiedensein macht sein Wesen aus. Soll nun dieser Begriff als caput mortuum im Strom der Begriffe, des Geisteslebens herumschwimmen? Du verlangst es nicht, sondern konstituierst das Verhältnis von absolut und relativ zwischen Gott und dem Geist; damit aber bist Du mitten im Geist, er hat, wie alles, auch das ihm wesensgemäß Fremde in sich eingesogen; dagegen gibt es kein Mittel! Ja, das Verhältnis wird noch enger.

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Du machst gleichsam Gott zu dem Subjekt, zu dem personalen Träger des absoluten Geistes (ähnlich Schelling: Gott hat den Geist als 2.te Potenz in sich, seine erste Potenz aber ist sein reines Sein). Damit hast Du de facto eine Philosophie des Geistes gegeben. Die dritte Potenz wäre für Dich der sittliche Wille; nun ist auch nach Deiner Meinung der sittliche Wille dem Geist evident, d. h. Geisteswert; aber nicht erfüllbar; was heißt das? "Der Geist" ist eine Abstraktion, also ethisch indifferent. Sittliches Handeln gibt es nur in Personen. Die Person hat aber "das Fremde" als Existentialprinzip in sich selbst. Die Person hat nicht nur Freiheit, sondern sie ist definiert durch Freiheit. Diese letzten Erwägungen führen nun zu der Darstellung meines positiven Standpunktes: Ich erkenne Dein doppeltes Erlebnis an, aber als Ausdruck der Polarität im Geiste selbst.

Doch ehe ich darauf eingehe, noch einige kritische Bemerkungen:

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1. Du sagst, der Geist erkenne sich in seinem zweiten Erlebnis als relativ gegen das Absolute, Fremde; nun hast Du schon eine Relativität statuiert, nämlich die zwischen der absoluten Evidenz und dem individuellen Geist. Sollte das nicht darin seinen Grund haben, daß Du eine realistische Begriffsmythologie mit dem Geist-Begriff treibst. Ist es nicht auch im zweiten Falle der individuelle Geist, der seine Relativität erkennt und dem ebendadurch die Absolutheit des Geistes zu etwas Fremden wird? Dann wäre das erste und zweite Erlebnis identisch. Jedenfalls wüßte ich nicht, wie sich in einem Individuum "der Geist" gegenüber einem Dritten als relativ erleben soll. Was ist überhaupt der Geist? Welch schwieriger Begriff, und von diesem werden Erlebnisse ausgesagt, die in Wahrheit das Individuum hat! – –

2. Du beschreibst Dein zweites Erlebnis als vor aller begrifflichen Deutung stehend. Das ist einfach ein Irrtum. Ich habe in den| letzten Wochen das Verhältnis von Unmittelbarkeit und Evidenz zu analysieren versucht. Da ist mir zunächst klar geworden, daß eine Beschreibung niemals nur unmittelbar ist. Sie erfolgt in Begriffen, und jeder Begriff ist eine "Zurechtmachung" und führt über die Unmittelbarkeit hinaus. Ich gehe noch weiter; schon das Erleben selbst, vom sinnlichen Eindruck anfangend, ist nicht mehr unmittelbar, sondern hat, insofern es in das Licht des Bewußtseins tritt, seiner selbst Deutung in sich. Wir erleben Sinn- und Wertbelastetes. Sinn und Wert sind aber Schöpfungen des Geistes. So ist auch Dein zweites Erlebnis Deutung und Schöpfung...

Das erste aber ist überhaupt kein besonderes Erlebnis (wenigstens nicht, insoweit es evident ist) sondern das jedem Erlebnis immanente Identitätsbewußtsein. – – Nimm nun von diesen Voraussetzungen einen Satz wie den: "Daß ich Gottes inne werde, ist Gottes Werk" –| Hier sind vorausgesetzt die Kategorien des Seins, der Kausalität, es ist vorausgesetzt eine bestimmte Erkenntnistheorie: das An-Sich macht sich bemerkbar durch Tätigkeit im Ich... und dies soll noch unmittelbare Evidenz sein? – – –

3. Du sagst: Die Immanenz ist "nur" formal. Siehst Du die Welt von Voraussetzungen und Problemen, die in diesem "nur" stecken? –

4. "Nur, wo der Geist in sich selber gebrochen wird, kommt es in ihm zur Liebe" denn das Gute ist derjenige "Geisteswert", "der dem Geiste wahrhaft fremd ist" – – – so sagst Du! Siehst Du die Paradoxie des letzten Satzes? Wie kannst Du sie rechtfertigen? Nur dadurch, daß Du den Geist intellektualisierst zur νόησις νοήσεως und das Handeln von ihm abtrennst. Aber mit Unrecht, von beiden Seiten her. Ich erinnere an die Rickertsche Urteilslehre, nach der jedes richtige Urteil der Vollzug eines Wertes ist, andererseits an intuitionistische Philosophien, bei| denen alles Intellektuelle, nicht nur das Religiös-Sittliche intuitiv begründet ist.

Doch nun zur positiven Seite: Ich ignoriere das doppelte Erlebnis nicht, aber ich deute es anders. Ich sehe in ihm den Ausdruck der Polarität im Geistesleben, die ich durch die beiden Begriffe: Wertbewußtsein und Unendlichkeitsbewußtsein bezeichnen möchte. Das eine Quelle der sittlichen Religion, das andere Quelle der Naturreligion. Beide ergeben eine grundverschiedene Transscendenz, das eine die absolute Transscendenz der Persönlichkeit, das andere die relative Transscendenz des Mythos. Das Unendlichkeitsbewußtsein ist dem Geist immanent im Verhältnis zu allem Gegenständlichen, nichts ist seine Grenze, über alles geht er hinaus, auch über alle Oberfläche und in immer tiefere Tiefen der Dinge. Unter dem Bilde der quantitativen und qualitativen Unendlichkeit können wir uns dieses Wesen des | Geistes denken. Weil der Geist das Unendlichkeitsbewußtsein hat, darum "transscendiert" er notwendig; er setzt Transscendentes als gegenständlich, denn die Reflexion auf seine eigne Transscendenz bleibt auch für den abstraktesten Philosophen, eine Abstraktion, die sobald sie aktuell wird, sich in mythisches Gewand kleidet. Er setzt als etwas Endliches als transscendent; es entsteht so die faktische Immanenz jedes konkreten Gottesgedankens, die verbunden ist mit dem Ideal, ihn transscendent zu denken – welches unmöglich ist. Daraus entsteht dann die Dialektik jedes Gottesgedankens, die in Kants berühmten Satz gipfelt, in dem er das Absolute zu sich selbst sprechen läßt: „Und woher bin ich?"
Innerhalb dieser Dialektik steht nun die Kultur. Die Wissenschaft, welche die quantitative Unendlichkeit betrachtet und Begriffe bildet, die Kunst, welche die qualitative Unendlichkeit betrachtet und Anschauungen bildet, das | Gemeinschaftsleben, das die Unendlichkeit der Freiheit zum Ausdruck bringt. Für alle drei gilt die Dialektik des Negativen und Positiven, die im Unendlichkeitsbewußtsein liegt; ihre positive Einheit ist die "Schöpfung", ihre negative der "Zerfall". In jeder Kulturschöpfung liegen die negativen Elemente und in jeder Zerfallserscheinung die positiven. In diesem Geburt und Grab; Blüte und Dekadence; Optimismus und Pessimismus umfassenden Kreislauf liegt aller Reichtum und aller Gehalt des Lebens beschlossen. – Deine Auffassung der Kunst scheint mir recht exoterisch zu sein! Ob man mit den Idealisten das Schöne als das Durchscheinen der Idee in der Erscheinung, oder mit den Impressionisten als die dem Begriff gleichwertige Bemächtigungsform der Anschauung, oder mit den Expressionisten als den Ausdruck der bewegten Innerlichkeit in Linie, Farbe, Ton und Wort auffaßt, immer ist die Kunst offenbarerisch und hat als solche den gleichen Ernst wie die Wissenschaft, ist Schöpfung. | Die Analogie mit dem Spiel beruht auf einer der Kunst äußerlichen Ähnlichkeit, daß sie formal Schein ist. Und doch sehen wir durch diesen Schein mehr Wirklichkeit, als durch die Wahrnehmung des ganzen Lebens. Die gesamte Ästhetik hat sich von der Analogie mit dem Spiel deshalb abgewendet. –

Das Transscendieren enthält ein positives und ein negatives Urteil, doch so, daß das negative überwiegt, wofür der Tod der konkrete Ausdruck ist. Dies ist die Leere der Kultur, die Leere des reinen Unendlichkeitsbewußtsein, die Leere der reinen Naturreligion. Aber das ist ja gar nicht, das ist nur eine Idee, ein Pol, der nie ist ohne den anderen Pol, das Wertbewußtsein.

Damit tritt etwas völlig Neues, etwas wahrhaft Transscendentes in die Sphäre des Unendlichkeitsbewußtseins, durchdringt diese Sphäre, und gibt dem Ja das Übergewicht, löst sich von ihr los und behauptet sich gegen jede ihrer Negationen, und hat die Kraft des reinen In-sich-Ruhens! – | Nun sind Wertbewußtsein, wie Unendlichkeitsbewußtsein zugleich als Genitivus objectivus und subjectivus gemeint. Das Unendliche wie der Wert sind als Gegenstände und als Eigenschaften des Subjektes gewußt: In seiner Unendlichkeit ist sich der Geist des Unendlichen bewußt, und als absolut wertvoll ist sich die Persönlichkeit des absoluten Wertes bewußt. Das läßt sich beidemale nicht trennen, ist reine Identität. Zugleich aber ist in beiden Fällen der individuelle Geist sich seiner Endlichkeit und Unwertigkeit bewußt. Das ergibt die Grundparadoxie, deren Lösung die Rechtfertigung ist.

Durch diese Paradoxie entsteht nun eine neue Objektivierung im Wertbewußtsein; es tritt das Gefühl der absoluten Verantwortung auf, und dieses kann nicht die Form der Selbstverantwortlichkeit annehmen denn dann wäre es entweder Willkür oder es zwänge zu einer Spaltung im Ich, wobei die eine Seite ins absolute Wertbewußtsein er| hoben und daselbst objektiviert würde. Diese aus dem Wertbewußtsein stammende Objektivierung tritt nun zusammen mit der aus dem Unendlichkeitsbewußtsein und gibt dieser die "Fremdheit" und ungeheure Wucht der religiösen Objektivierung. So verbindet sich im Gottesgedanken die ontologische Objektivierung des Unendlichkeitsbewußtseins mit der axiologischen des Wertbewußtseins. Die Trägerin der Transscendenz ist die Geltung der Werte, nur ihre Geltung, ihr "daß", nicht ihr "was" denn das System der Werte selbst ist intuitives Geistesprodukt, ist „Schöpfung“ und steht unter der Rechtfertigung, auch die "Liebe". Nietzsches Kampf gegen die "Liebe" geht aus einer ungeheuren Kraft des Wertbewußtseins hervor; sein Wert heißt "Wahrhaftigkeit". Die Entscheidung ist für unsere Frage gleichgültig; Dein Einwand, daß der Geist von sich zur Liebe unfähig ist, könnte genau so von der Wahrhaftigkeit gelten. In beiden Fällen ist es nicht der Geist, der un| fähig ist, sondern die Person, die "schwach" ist.

Wie wird sich nun der Gottesgedanke inhaltlich gestalten? Er ist bestimmt durch die beiden Pole des Geistes, die Unendlichkeit und den Wert. Die Anschauung des Unendlichen als ein Endliches gipfelt in der Idee des absoluten Geistes, die Anschauung des Wertes als aktuell in der Idee der absoluten Persönlichkeit. Darum ist in dem immanentesten Gottesbegriff, etwa "Leben" eine Personalisierung: "Hymnen an das Leben", in dem es als "Du" empfunden wird. Das "Du" in Rilkes Gedichten; und umgekehrt kommt selbst Ritschl nicht über eine Ontologisierung und damit logisch Immanentisierung des Gottesgedankens hinaus: Dies Schweben zwischen der Transscendenz des Wertbewußtseins mit seiner Schroffheit, Weltabgewendetheit, Überlegenheit des personalen Bewußtsein über Kultur, Dekadence und Tod, auf der einen Seite, und der Hingabe an den Reichtum, die Anschauung Gottes als Lebensimmanenz... macht den Inhalt unserer Religiosität aus. | Gott ist die Liebe, d. h. Gott läßt sich finden in der Lebensimmanenz, in der Unendlichkeit des Geistes, und Gott ist der Zorn, d. h. Gott läßt sich finden in der Negativität des Lebens, in Verfall und Tod; und Gott ist der Heilige, d. h. er fordert und gibt zugleich das absolute Wertbewußtsein, und beides vereinigt, die letzte Vertiefung des Unendlichkeits- durch das Wertbewußtsein ist vielleicht am besten ausgedrückt in dem Wort Gott ist der Ewige und das Ewige. – Nur so läßt sich das Problem des "Supra" lösen; sobald dagegen der Wert als ontologisch realiter transscendent gedacht wird, wie bei Dir, entsteht die unabwendbare Dialektik des "Supra".

Wo bekommst Du eigentlich die ethischen Normen her? Durch Intuition! Einverstanden! Subjekt und Objekt der Intuition ist aber der Geist; woher bekommt nun der Geist die Norm des Sich-Beugens vor einem Fremden? Weil er ohne dieses Fremde "nichtig" ist, d. h. weil dieses Fremde zu ihm gehört, nicht etwas Fremdes ist; und weiter: In welchem Sinne sich beugen? Vor| Normen, die aus dem Fremden stammen? Aber alle Normen stammen aus dem Geist, sonst könnte er sie nicht "anschauen"; nur wo Subjekt und Objekt zur Identität kommen, ist Evidenz! Das Fremde bringt also gar nichts Neues; es ist nur der Ausdruck für die "Existenz" des Geistes; denn nur weil der Geist "existiert" gibt es Tod, Dekadence und absolutes Wertbewußtsein. Gott als das Fremde ist nichts anderes als der Ausdruck für die Urparadoxie der Existenz des Geistes... worüber noch vieles zu sagen wäre, z. B. daß Existenz auch eine Kategorie des Geistes ist u.s.f Doch nun sind wir weit von unserm Ausgangspunkte abgekommen, dem Problem des Zweiflers. Der Zweifler befindet sich auf dem Wege von einer Objektivation zur andern, denn einen Atheisten gibt es nicht, es ist nur ein Grenzbegriff. Eine genaue Analyse aller Begriffe, wie Absolutes, Leben, Natur, Entwicklung, Kultur, Kosmos, Totalität etc. | zeigen deutlich, daß Wert- und Unendlichkeitsbewußtsein in ihnen objektiviert sind. Auch diese Begriffe sind Dogmen und wer an ihnen zweifelt, glaubt doch noch an die Wahrheit, die ihn zweifeln läßt und hat darin seine Objektivation. So kann man sagen: An Gott zu zweifeln ist unmöglich und an Gott nicht zu zweifeln ist unmöglich. Das erste bezieht sich auf den Gehalt, das zweite auf die Objektivationsform. Die Frömmigkeit wächst intensiv mit der Kraft des Wertbewußtseins, extensiv mit dem Reichtum und der Tiefe des Weltgefühls. Die Gefahr vergangener Zeiten war der Verlust des zweiten, unsere Gefahr ist der Verlust des ersten. Das erste treibt zu immer schärferer Personalisierung Gottes, bis zur Christologie, das zweite zu immer stärker Immanenz bis zu Nietzsche
Der Katholicismus ist der weltgeschichtliche Versuch, aus der Transscendenz Gottes einen selbstständigen, den "immanenten" Geist beugenden Gehalt abzuleiten. Daher Kirche gegen Staat, Dogma gegen Wissen| schaft, Wunder gegen Naturgesetz, geistliches gegen weltliches Leben. Hier beugt sich der Geist und zerbricht: Jesuitismus und Wahrheitsbewußtsein

Hier ist der Zweifel unreligiös, im Protestantismus (soweit er nicht die Halbheit des Übergangs ist) ist der Zweifel religiös normal, d. h. das Bewußtsein geht über jede besondere Form des Gottesgedankens und Erlebens hinaus, wie im Rechtfertigungsgedanken enthalten! – – – Zuletzt liegt all meinen Ausführungen der Gedanke des Fichteschen Atheismusstreites6] zu Grunde, daß es logisch wie religiös unmöglich ist, Gott unter die Gegenstände einzureihen, und daß der Satz: "Gott ist", nur per paradoxiam möglich ist.

Nun leb wohl! Ich habe den Eindruck, daß wir nicht so weit von einander entfernt sind, als ich zuerst dachte! Die „Quarte“ in das System der Kultur will auch ich schlagen, nur nicht durch eine Supra-Kultur – Dein !
    Entität nicht im Datensatz vorhanden

    Personen:

    Orte:

    Literatur:

    • Tillich, Paul, Die religionsgeschichtliche Konstruktion in Schellings positiver Philosophie, ihre Voraussetzungen und Prinzipien, Breslau 1910 
    • Tillich, Paul, Der Begriff des übernatürlichen, sein dialektischer Charakter und das Prinzip der Identität, dargestellt an der supranaturalistischen Theologie vor Schleiermacher, Königsberg 1915 
    • Tillich, Paul, Systematische Theologie von 1913, in: Ders., Frühe Werke (EW IX), hg. von Gerd Hummel / Doris Lax, Berlin/New York 1998, 273-434. 
    • Tillich, Paul, Mystik und Schuldbewußtsein in Schellings philosophischer Entwicklung, Gütersloh 1912. 
    • Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph, Sämtliche Werke, Erste Abteilung, Band X, Stuttgart/Augsburg 1861. 
    • Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph, Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit, München 1809. 
    • Kant, Immanuel, Kritik der reinen Vernunft, hg. von Jens Timmermann, Hamburg 1998.