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Den D. 6. Dez. 1917.

Lieber Emanuel!

Es tut mir sehr, sehr leid, daß es Dir so schlecht geht, und ich habe nur die Hoffnung, daß keine dauernde Schädigung zurückbleibt. Daß Du einmal längere Zeit nicht arbeiten kannst, ist kein Schade, im Gegenteil: Es erholt Dein Gehirn und macht es rezeptionsfähiger, wie es auch mir gegangen ist. Ich habe seit August dieses Jahres wieder angefangen zu arbeiten, also nach zwei Jahren völligen Ruhens. Verschiedene Vorgänge veranlaßten mich, einen dritten Pfarrer zu beantragen, der mir auch bewilligt wurde; außerdem blieben wir immer ungefähr an der gleichen Stelle, so daß alles klappt und ich mich weitgehend zurückziehen konnte. So habe ich denn begonnen, meine größte Lücke auszufüllen, und habe die moderne Philosophie energisch in Angriff genommen. Unsere damals besprochenen Fragen des "Systems der Wissenschaften" gaben den entscheidenden Anstoß1]; jetzt bin ich schon so weit, daß mir die Literatur übersichtlich, die Richtungen einigermaßen deutlich, die Hauptprobleme verständlich geworden sind. Am leb| haftesten interessiert mich die von Husserl begründete phänomenologische Schule, die in Scheler einen katholischen und scholastisierenden Anhänger gefunden hat. Wir haben allen Anlaß, unser Augenmerk auf sie zu richten. Daneben hat mich auch Simmel in manchem gepackt, Rickert in seinem "Gegenstand der Erkenntnis" usw. Am energischsten habe ich mich auf die Logik geworfen, Husserl, Lotze, Siegwart, Windelband, Lask. Als neue Wissenschaft habe ich die Ästhetik kennen gelernt in dicken Bänden von Hartmann, Lipps etc. Augenblicklich bin ich bei der 1600-seitigen Psychologie von Ebbinghaus. Die meisten Sachen habe ich gekauft, da ich sie hier nicht anders haben kann, und es das Beste ist, die Hauptsachen zu besitzen. An Kollegs habe ich angekündigt:W S. S.16 17 "Geschichte der Religionsphilosophie von Kant bis zur Gegenwart."S W/S. 17/18: "Einleitung in die Theologie und Religionswissenschaft."W S/S. 178: "Geschichte der Dogmatik seit 1750" (4stündig priv.) "Religionsphilosophie und Ästhetik." (1st. publ.). Ich bin also seit August wieder "Gelehrter" geworden und habe mich innerlich weitgehend gegen den Krieg abgeschlossen…

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Doch nun zu den Problemen. Dein Widerspruch geht in der Tat von Voraussetzungen aus, die nicht mehr zutreffen. Ich will darum mit der Formulierung des Zentralproblems meines Denkens beginnen: Es heißt: "Wie ist mit dem theoretischen Zweifel diejenige Gewißheit vereinbar, die das Wesen des Glaubens ausmacht?" Oder: "Wie können die aus dem Denken erwachsenden Hemmnisse der religiösen Funktion überwunden werden?" Ich sehe in der Lösung von einer den Gegensatz Subjekt-Objekt und damit den Zweifel aufhebenden Mystik ab. Sie scheint mir auf gleicher Stufe zu stehen mit der außerethischen Mystik der "Schwärmer", Romantiker, ästhetischen Pantheisten etc.… und ist vielfach kritisierbar, was Dir gegenüber nicht nötig ist. Die zweite Art wäre die intellektuelle Überwindung durch den "wissenschaftlichen Gottesbegriff". Ich vermute, daß Du auch eine Widerlegung dieses Weges nicht nötig hast. Da es aber mein früherer war, so will ich zugleich als Selbstkritik darauf eingehen. Ich akzeptiere den Kählerschen Satz: "das Absolute ist ein Götze"2], dann näm| lich, wenn die religiöse Funktion auf die Vollendung des theoretischen Gottesbegriffs fundiert werden soll. Ist man in dieser oder jener Hinsicht Skeptiker, so wäre damit die Religion selbst schlechterdings zweifelhaft und damit erledigt. Ist man nicht genereller Skeptiker, so ist man doch als "Gewissenhafter des Geistes" verpflichtet, gegen jede spezielle Beweisführung skeptisch zu sein. Ist man "Absolutist", etwa wie die Phänomenologen, so muß doch die Reflexion auf die Relativität auch dieser Schule all ihren Resultaten eine Begrenztheit geben, auf die sich religiöse Gewißheit nicht gründen läßt. Der entscheidende Einwand ist nun der: Es widerspricht dem Centrum des religiösen Lebens, daß das Recht zum Glauben abhängig wird von einem intellektuellen Werk. Entweder kommt dabei eine intellektuelle Gleichgültigkeit oder ein intellektueller Pharisäismus heraus. (Skepsis – orthodoxer Hegelianismus) Er ist aber wie jeder Pharisäismus eine Selbsttäuschung: das Ziel, hier die Gewißheit, wird nicht erreicht, und es tritt die tiefe Verzagtheit der religiös-| skeptischen Stimmung ein. Damit habe ich in Parallele gestellt: Vollkommenheit und Gewißheit, Gesetz und Theorie, Selbstgerechtigkeit und intellektueller Perfektionismus, Sündennot bis zur Unheilsgewißheit mit Zweifel bis zur radikalen Negation. Ich halte diese Analogie für sachgemäß. Der Einwand, daß die Erkenntnistätigkeit nicht ins Innerste der Persönlichkeit reicht, trifft nicht, da sie es in der Tat dann tut, wenn das Innerste in Frage steht. Sonst wäre auch die ganze Qual und Verzweiflung des Zweifels nicht erklärlich. Der tiefere Grund ist – vielleicht – der, daß (nach Rickerts Urteilslehre) jedes Urteil die Erfüllung eines (theoretischen) Wertes oder Unwertes ist, und es innerhalb der Sphäre der theoretischen Gültigkeiten, die mit dem Soll-Anspruch dieser erkenntnismäßigen Realisierung uns gegenüberstehen, solche gibt die die Lebenswurzel selbst betreffen, und in denen Nichterfüllung durch Zweifel die gleiche fundamentale Bedeutung hat, wie Nichterfüllung des primären sittlichen Prinzip (etwa des „guten Willens“). ....

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Nun wirst Du aber selbst einen dritten Weg einschlagen, wenn ältere Gedanken von Dir noch gültig sind, nämlich den von dem sittlich-religiösen Realitätserlebnis zu der Überwindung des Zweifels. Auch dieser Weg bietet zwei Möglichkeiten. Die Gottesgewißheit kann als sittliche Forderung auftreten. So sprachst Du früher. Ich halte diesen Weg für verhängnisvoll und Verstand wie Gefühl lehnen sich gleich energisch dagegen auf. Sittliche Forderungen können sich nur auf der Idee nach praktisch Realisierbares beziehen; ich kann nie von jemand sittlich fordern, daß er etwas theoretisch realisiere. Und theoretisch ist der Gottesgedanke selbst dann, wenn er aus lediglich praktischen Motiven hervorgeht; denn er ist ein "Begriff" und im Verhältnis des Vorstellens "gegenständlich". Er fällt also als Begriff oder Gegenstand unter die Formen des Gegenständlichen überhaupt, selbst wenn er als absolutes Ich gedacht wird; denn auch dann ist er für andere Iche gegenständlich. – Aber auch in dem Sinne ist eine sittliche Forderung nicht möglich, daß etwa die Erfahrung | von der unmittelbaren (und als solcher evidenten) Realität Gottes gefordert wird. Diese Forderung hätte nur Sinn, wenn wir durch bestimmtes als sittlich anerkanntes Verhalten die Gotteserfahrung im evidenten Sinne notwendig machen müßten; welche Forderung das wäre, wüßte ich nicht. Noch weniger sehe ich, welcher Art die unmittelbare Evidenz sein sollte. Daß da, wo Gottesglaube in starker oder schwacher Weise vorhanden ist, das Gefühl der Gegenwart und Realität Gottes stark sein kann, ist gewiß, daß es die höchste Überzeugungskraft haben kann, ist Tatsache. Aber die Frage ist ja die, was wird, wenn die Skepsis dieses Band zerrissen hat, dieses Überzeugungsgefühl in Illusionen aufzulösen versucht hat? Jedes Erlebnis, das sich als Gotteserlebnis gibt, bedarf ja der Deutung. Diese Deutung ist Theorie. Es gibt keinen Weg von der Praxis zur Theorie, der ohne volle theoretische Mitwirkung möglich wäre. Was Wissenschaft zerstört hat, kann letztlich nur Wissenschaft wieder aufbauen, sagt Husserl, und damit wären wir auf den ungangbaren zweiten| Weg gedrängt. – Aber auch dieser dritte Weg hat wie gesagt, noch eine zweite Möglichkeit, nämlich: Nicht fordern, sondern predigen und abwarten. Darin liegt einerseits ein Verzicht auf Lösung (warten), andererseits der Versuch, den Zustand des Zweifels mit bösem Gewissen zu belasten, und damit indirekt eine Forderung zu stellen. Unter allen Umständen aber steht auch diesem ganzen Weg das Prinzip entgegen: der Glaube darf nicht abhängig gemacht werden vom Werk, auch nicht vorn "sittlichen" Werk der Bejahung des Gottesgedankens oder der herbeigeführten Gotteserfahrung (selbst wenn beides auch ohne Suggestion möglich wäre). – – – –

Ich glaube, daß hier der entscheidende Punkt zwischen uns liegt. Du hältst den Zweifel für letztlich unsittlich, ich halte ihn von der sittlichen Idee der Wahrhaftigkeit aus für sittlich erforderlich unter bestimm- ten Voraussetzungen. Sind diese Voraussetzungen (Fähigkeit theoretischer Kritik) gegeben, so halte ich ihn in einem bestimmten Sinne für unüberwindlich. | Es ist ja nicht schwer, die religiöse Skepsis mit dem bösen Gewissen zu belasten; einerseits steht die Macht einer ungeheuren Tradition gegen sie, andererseits betrifft sie die Absolutheitspunkte des inneren Lebens, und hier zu zweifeln ist in der Tat objektive Schuld; aber eine Schuld, die zugleich notwendig ist, da die Überwindung des Zweifels durch Verletzung der Wahrhaftigkeit objektiv und subjektiv schuldig wäre. Du kannst nun dekretieren: die Wahrhaftigkeit stimmt mit dem Glauben überein; der Konflikt ist nicht begründet und darum doppelt schuldig. Aber dieses Dekret ist unerweislich. Und es kann auch dem ernsthaften Zweifel nichts anhaben, da er gerade die Voraussetzungen jedes derartigen Beweises leugnet.

Da es also weder möglich ist, das gegenständliche Moment in der Religion theoretisch durch Beweis, noch praktisch durch sittliche Forderung vom Zweifel zu befreien – falls die Voraussetzungen des Zweifels gegeben sind – so muß die religiöse Gewißheit sich auf ein anderes als das objektive Moment beziehen. | Dieses subjektive, urständliche Moment der Religion zu beschreiben, ist nun die wichtigste Aufgabe der Religionswissenschaft und Theologie: Es enthält sicher mehrere Elemente, alle unter dem Exponenten „absolut“, also etwa: Unendlichkeitsbewußtsein, Eigenwertbewußtsein, Bewußtsein einer Wertordnung, Abhängigkeits- und Freiheitsbewußtsein, Totalitätsbewußtsein etc., alles unter dem Exponenten "absolut". Dein Einwand, daß die Skepsis sich auch gegen dieses Bewußtsein richten könne, trifft nicht, da ja in ihr nichts Objektives bewußt wird, sondern dies nur die Beschreibung einer reinen Zuständlichkeit ist. Das ist da, oder nicht da, wie Schmerz da ist oder nicht da; man kann aber nicht gegen seinen Schmerz, sondern nur gegen eine Erklärung desselben (ob im Körper oder in der Einbildung) skeptisch sein! So ist die skepsisfreie Religion eine reine Zuständlichkeit, die dem gesamten Erleben eine Färbung gibt; sie ist also kein Erlebnis. Dies widerspräche der Absolutheit, sondern eine Färbung, ein Klang, eine Richtung, eine Form, ein Ausdruck, eine Seele jedes Erlebnisses (der Idee nach).

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Damit ist zugleich ihre Universalität gegeben; es ist natürlich nicht feststellbar, ob jedes Individuum der naturwissenschaftlichen Species Mensch an dieser Bestimmtheit seiner Erlebnisse teilnimmt, wenn auch nur im geringsten Grade. Aber man kann unbedenklich den Menschen als Geistwesen mit dieser Bestimmtheit definieren: das Menschsein fängt mit dieser Erlebnisform an! ..

Auf diesem innerlich und äußerlich universellen Boden, welcher der Skepsis un zugänglich ist, erhebt sich nun die objektive Religion. Nicht alle Erlebnisse erhalten ja faktisch die religiöse Bestimmtheit und jedes besondere Erlebnis drängt zur "Deutung". Deutung ist aber Objektivierung. Und das Erlebnis tritt vermutlich nie ohne diese Deutung oder Objektivierung auf. Die Objektivierung hat verschiedene Stufen: Mythos, Dogma, Philosophie, Selbstbetrachtung. Die wichtigste und im Allgemeinen unaufhebbare Stufe ist die erste, die tiefste, mit der ersten oft verbundene aber ablösbare die letzte; auf der zweiten beruht die Kirche, in der dritten einigt sich die Religion mit dem theoretischen Bewußtsein.| Was ich unter der letzten Form verstehe, muß noch deutlicher werden: Es ist das Leben mit nach innen gerichteter Bestimmtheit, das Sich-selbst-Erfassen in Bezug auf sich, Welt und "Ewigkeit". Es ist auch die bewußte Herbeiführung der religiösen Bestimmtheit durch Konzentration etc. Doch ich suche hier nach Worten und möchte lieber ein Beispiel sagen: Goethe. Gerade in seiner Weltenferne von der mythisch-dogmatischen Objektivation ist er ein reiner Typus der psychisch-immanenten, doch nicht ohne Unterstützung der philosophischen. Ganz rein ist die immanente Objektivation nicht möglich, da sie sonst aphatisch-mystisch werden müßte; hier liegen die Wurzeln des Ersatzes der objektiven Religion im kirchlichen Sinne durch die Kunst! – Über die Objektivation ließen sich viele Bücher schreiben. Ihre Notwendigkeit ist in dem subjektiv-objektiven Charakter des Geistes überhaupt begründet: Er ist nur, indem er sich objektiviert. Ihre Wirklichkeit ist das Problem von Dogma, Kirche, Kultus, Frömmigkeit etc. Ihre Bedingtheit und unendliche Relativität ist die Aussage des Rechtfertigungsgedankens. Doch davon genug!

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Unsere Grundfrage findet damit eine ganz andere Beantwortung. Ich lasse den mißverständlichen Ausdruck der objektiven Rechtfertigung fallen. Selbstverständlich meinte ich ihn nicht "wirkungslos", sondern seine Grundlage war die Anschauung einer hohen und höchsten Wertbestimmtheit bei Menschen mit religiöser Skepsis bis zur Negation; und nicht nur faktische Wertbestimmtheit, sondern auch bewußtes Leben in dem, was ich religiöses Prinzip, oder subjektive oder urständliche Religion nannte, verbunden mit Objektivationen etwa der vierten und dritten Form. Insofern diese Art des inneren Lebens zugleich mit dem tiefen Gefühl der letzten Spannungen einerseits, einer starken inneren Sicherheit andererseits verbunden ist, liegen hier die Phänomene des Rechtfertigungsbewußtseins ohne Objektivation im ersten und zweiten Sinne vor. Das ist es, was ich eigentlich meine.

Und nun kommt weiter hinzu die Einsicht in die Stetigkeit auch des geistigen Lebens. Von dem wertvollsten bis zu dem wertlosesten Menschen gibt | es genau so eine stetige Reihe, wie von dem Heiligen zu dem Gottlosen. Freilich ist die Reihe für unser Auge nicht immer merklich, nach einer Reihe von zarten Übergängen erscheint plötzlich ein neuer Typus u.s.w. Darum ist es, absolut gesprochen, falsch, die abstrakten Wertkategorien gut – böse, heilig – unheilig, schön – häßlich, wahr – falsch etc. unmittelbar in reiner Antithetik auf die konkrete Wirklichkeit anzuwenden; andererseits ist auch nicht alles gleichartig, sondern es gibt ein Überwiegen, das cum grano salis die Anwendung dieser Kategorien praktisch erlaubt. Insbesondere gibt es einen sehr wichtigen Übergang, der "Bekehrung" im älteren Sinne analog, d. h. der bewußten Hinwendung auf die absolute Wertsphäre und die Innerlichkeit des Religiösen. Hier liegt der Skopus meiner Predigt. Und in dieser Sphäre wieder die jenseits der Spannungen befindliche Gewißheit, die dem Lutherschen Rechtfertigungserlebnis analog ist, das letzte Ziel aller Arbeit an sich und anderen.

So vertrete ich also: Einen Universalismus des Menschlichen| bezüglich der Wertbezogenheit überhaupt, einen Universalismus des Geistigen bezüglich des Gerichtetseins auf die Werte, und einen Partikularismus des vollkommen Persönlichen. Auf allen drei Stufen aber ist "Religion" im urständlichen Sinne und in irgend einer Form der Objektivation. In der zweiten Stufe ringt die "Religion" um die Herrschaft, in der dritten hat sie die Herrschaft. Mit diesen Stufen haben aber die Objektivationsstufen gar nichts zu tun. Diese richten sich lediglich nach der Gestaltung des Kulturbewußtseins einzelner und größerer| Kreise.

Damit Schluß für diesmal. Hoffentlich findest Du keine allzu großen Gegensätze zwischen dieser und Deiner Ansicht. Kritisiere die centrale Meinung, nicht die vielen Unsicherheiten, Mißverständlichkeiten u.s.w. die bei dieser Behandlungsweise nötig sind.

Nun leb wohl und vor allem gute Besserung! Grüß Deine Braut!

Dein
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    Personen:

    Literatur:

    • Kähler, Martin, Die Wissenschaft der christlichen Lehre von dem evangelischen Grundartikel aus im Abrisse dargestellt, Leipzig 1905, 3. Auflage. 
    • Tillich, Paul, Das System der Wissenschaften nach Gegenständen und Methoden. Ein Entwurf von Paul Tillich, Göttingen 1923. 
    • Ebbinghaus, Hermann, Grundzüge der Psychologie, Leipzig 1905.