Brief von Paul Tillich an Wingolffreunde vom 19. August 1917

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Im Felde den 19.August 1917

Liebe Freunde!

Nun ist es fast genau 1 Jahr her, daß ich den Rundbrief das letzte Mal erhielt, beide Male dicht um meinen Geburtstag herum, ein alljährliches liebes Geburtstagsgeschenk! So Schweres wie der Juni 1916 bei Verdun hat mir das Rundbrief-Jahr nicht wieder gebracht. Natürlich waren wir auch an der Somme, natürlich auch in der diesjährigen Champagneschlacht, aber was ist auch das Schlimmste gegen Verdun? Natürlich kommen wir in kürze in eins der großen Schlachtfelder – denn was bliebe einer alten, berühmten Westdivision erspart? Und was muß sie erleben, nur Furchtbares, nurin "Schlachten", nie Schlacht und Sieg; aber wir wissen das nun und haben uns dreingefunden, mit einer gewissen Bitterkeit zwar, aber auch mit dem Bewußtsein, die aller-aller schwerste Last dieses Krieges getragen zu haben. Natürlich meine ich die Soldaten und Infanterie-Offiziere damit; wie könnten wir uns mit denen vergleichen, wenn wir auch schon 15 mal aus Quartieren herausgeschossen sind, was immer einen Nervenverbrauch von einem Dutzend Gängen in den Schützengräben weit übertrifft denn da bildet man sich wenigstens ein, Schutz zu haben, im Quartier ist man aber schutzlos Tag und Nacht der Beschießung preisgegeben! Dieses alles aber, wozu noch kommt, daß ich in diesem Jahre schon mein 27. Quartier habe, hat mich nicht gehindert, seit etwa einem Jahr wieder etwas mit der Arbeit angefangen zu haben. Es war an der Somme, zwischen Bapaume und Pevonne auf den Landstraßen und in den Reservegräben,war wo plötzlich, fast genau nach zwei Kriegsjahren, die "Lust am Spekulieren" wieder in mir erwachte; und das ist geblieben. Ich hatte für dies Sommersemester und habe für das nächste Wintersemester in Halle Kollegs angekündet (mit dem *1] der im Felde Befindlichen) und zwar: "Geschichte der Religionsphilosophie von Kant bis zur Gegenwart" und "Einleitung in die Theologie und Religionswissenschaft". Darauf habe ich mich nun etwas vorbereitet, das heißt, ich habe mich mal über die Stellung der Theologie im System der Wissenschaften überhaupt zu vergewissern gesucht, habe zu diesem Zweck Untersuchungen über das System der Wissenschaften und die grundlegenden Methoden gemacht2], und habe allerlei höchst wichtige und interessante Probleme entdeckt, die mir schließlich eine Beschäftigung mit der modernen Logik und Methodologie zur unabweisbaren Pflicht machten. So habe ich denn augenblicklich die ganzen Koffer voll Logiken und schwimme nach 3 Jahren geistigen | Zappelns endlich einmal wieder wie der Fisch im Wasser. Wir sind jetzt drei evang. Pfarrer, sodaß ich etwas mehr Zeit habe, außerdem nütze ich die Zeit intensiv aus. Es sind die Jahre, die über Sein und Nichtsein meines Berufes entscheiden. Bin ich jetzt dauernd draußen, so kann ich die Dozentur an den Nagel hängen. Ich möchte noch zu Alberts Zitat: ἡ γνῶσις φυσιοῖ, ἡ δὲ ἀγάπη οἰκοδομεῖ das Wort ergreifen. Ich möchte diesem Satz das kontradiktorische Gegenteil gegenüberstellen, nicht um ihn zu negieren, sondern um ihn in seiner Geltung auf eine ganz bestimmte Beziehung einzu- schränken; denn, wird er absolut genommen, so wird er unwahr! Ich bestreite zunächst, daß das Wissen, insofern es Wissen ist, aufbläht. Es gibt drei Fälle, in denen das Wissen aufbläht:
1. Das Halbwissen bei den sogenannten Halbgebildeten, wie häufig Lehrern und dergleichen,
2. das reine Fachgelehrtentum, das den weiten Blick verliert und sich als "Autorität" weiß,
3. die sophistisch-schauspielerische Skepsis, die sich mit Rethorik und Dialektik über den andern erhebt ohne sachliches Interesse an der Wahrheit. Mit diesen letzteren, zum Teil auch den zweiten hat Paulus offenbar zu tun gehabt, mit Nr.2 bei den "Schriftgelehrten", mit Nr. 3 bei den griechischen Schulphilosophen.

Alle diese drei Klassen kann man in den Satz zusammenfassen: Das Nicht-Wissen (im Sinne von Halb- und Schein- und Buchstaben-Wissen) bläht auf. Das Wissen aber "bessert", wie Luther οἰκοδομεῖ übersetzt. -

Ich stelle damit ein Ideal auf, das allerdings im Neuen Testament nicht zu finden ist, das aber doch mit 2 Fundamenten der neutestamentlichen Ethik zusammenhängt:
1. Die Hingabe der Persönlichkeit,
2. die Wahrhaftigkeit.

Die Hingabe wird im N.T. in erster Linie bezüglich Gottes gedacht; diese Hingabe meine ich, und wenn die Gleichung Gott und Wahrheit gilt, so stelle ich dem neutestamentlichen Weg, durch die Hingabe an Gott zur Wahrheit zu kommen, den umgekehrten entgegen, durch die Hingabe an die Wahrheit zu Gott zu kommen. Die Wahrhaftigkeit ist im Christentum ausgebildet durch die Selbsterforschung des Gewissens und durch die Forderung des Bekennens. Sie ist aber nicht ausgebildet im Sinne der schlechthinnigen Objektivität und Gewissenhaftigkeit in Bezug auf das Erkennen.|

Damit habe ich die neuen Richtlinien aus den alten abgeleitet. Die Umkehrung des Weges in Nr.1 ist bedingt durch Nr.2, insofern die radikale Objektivität im Namen der Wahrheit und aus Wahrhaftigkeit auch Gott zum Problem macht.

Die "Demut" des "Wissenden" in diesem Sinne wird zunächst darin bestehen, daß er sich als Nichtwissenden weiß; aber schon dieses Wissen erhebt ihn objektiv über alle, die etwas zu wissen glauben, und, im Sinne der Wahrhaftigkeit (aber nur in diesem Sinne) auch über alle Gläubigen! Darin liegt schon eine Gefahr, und diese Gefahr wird zum Verderben, wenn er auf dieser Stufe des Wissens bewußt stehen bleibt, d.h. dogmatischer Skeptiker wird; dann tritt die unwissende Ironie des Skeptikers gegen alle übigen ein, die nicht tief genug ist, auch gegen sich selbst ironisch zu sein.

Wird diese Stufe überschritten, so entsteht der Suchende, der nur findet, um weiter zu suchen! Er nimmt das Gefundene, aber er legt es nicht als Besitz in den Schrank, sondern er betrachtet es von allen Seiten, bis es ihm nicht mehr genügt, aber auf die Spur führt zu neuen Funden; er hat überall seine Frage, seine innere Antithese, seinen Verdacht! Er ist von Grund auf mißtrauisch; er fragt nicht nur, was ist das für ein Gedanke, sondern auch, warum denkt dieser so, warum muß er so denken? Er gräbt in den Hintergründen der Seelen, um die versteckten Wurzeln der Überzeugung, Glauben, Parteistellungen, inneren Gewißheiten usw. auszugraben. Er ist überhaupt sehr mißtrauisch gegen das Pathos der Überzeugung, gegen Zeitmeinungen, Schlagworte, aber auch gegen Gläubige und besonders Märtyrer. Am mißtrauischsten ist er gegen sich selbst und alle Gedanken, die ihm süß eingehen, ihm Erhebung und Frieden bringen, weil er weiß, daß nicht nur die Anatomie des Menschen, sondern auch die Anatomie der Seele und des Kosmos häßlich ist! Ihm ist es auch kein Gegenbeweis gegen die Wahrheit, wenn jemand oder vielleicht sein eigenes Herz sagt: Dann müßte ich verzweifeln, dann könnte ich nicht leben; er verwechselt den schönen Schein in aller Kunst und allem Glauben nicht mit der Wahrheit. Aber er weiß auch, daß dieser schöne Schein eine der grundlegendsten Notwendigkeiten des Lebens ist, und darum bekämpft er ihn nicht, sondern weiß, daß er selber irgendwie dauernd von ihm lebt! Doch auch gegen solche Gedanken ist er vorsichtig! Er kann auch eine dritte Stufe erreichen, er kann Systematiker werden; er kann schöpferisch neue Gedanken in die Welt werfen in | Form von Wissenschaft oder Rede oder Poesie oder Kunst oder Politik; er kann einen eisernen Ring neuer Gedanken schmieden, indem er seine Zeit einfängt. Aber er selbst sieht auch noch über sein System hinaus. Er läßt sich auch durch seinen Königspalast seinen Blick nicht einengen, sondern dann und wann geht er heraus in die Wüsten des Gedankens, sich diesen Raubtieren aussetzend, mit ihnen kämpfend, vielleicht, um zuletzt von einem zerrissen zu werden, der ihm zu stark ist – und darin bleibt er, auch wenn er König im Reich der Gedanken geworden wäre, der Demütige, der wahrhaft Wissende, daß er wieder und wieder in die Wüste geht!-

Zu dieser Wahrhaftigkeit gehört vollkommene Hingebung; die Glücksfrage auch in Form der Seligkeitsfrage bleibt untergeordnet. Der Wissende ist notwendig einsam; denn nur wenige haben seine Kraft, und die sie haben, gehen ihre eigenen Wege. Er kann im letzten Grunde nie verstanden werden, denn ihn zu verstehen, müßte man erlebt haben, was er erlebt hat. Aber in wie geringem Maße ist das möglich – er muß sich darum auch immer wieder losreißen von seinen "Kreisen" den alten und den neuen, damit sie ihm nicht geistig zum Gefängnis werden, und wenn dazu die liebsten und nächsten Menschen gehören; er kann auch nicht bloß Deutscher oder Protestant oder Christ sein, er hat auch gegen diese "Kreise" seine Freiheit zu wahren. Das alles aber ist mit viel Schmerz verbunden. Das Schwerste aber sind die Abgründe, in die er selbst steigen muß, das Ringen mit Gott und Teufel, mit Optimismus und Pessimismus, mit Materie und Geist, das selbstzerstörende Immerwiederumreißen aller Gebäude, der Radikalismus der Selbstkritik, der in die Seele dringt wie das schärfste Messer. Dazu die Geister der Vergangenheit, die ihn immer wieder einfangen wollen, die Erinnerungen, die Seligkeiten, der Friede des Glaubens, das gute Gewissen – alles Werte, die ihn fangen, halten wollen, daß er müde werde in seinem Suchen! Und dabei ist ihm versagt, was auch der Märtyrer noch hat, das Pathos der Überzeugung, der Fanatismus des Glaubens, der Opferwille für einen Glauben. Das einzige Glück, das ihm bleibt, ist das eiskalte, aber überirdische Glück seiner Freiheit und seines Hinabschauens, Hindurchschauens.-

Wenn ich nun in diese Worte selbst einen Hauch Pathos gemischt habe, so ist das ein Beweis, daß ich meinem Ideal noch fern bin, wie ich das auch weiß und fühle; aber es ist mein Ideal, ein Ideal, nicht das Ideal; wie könnte es das Ideal je werden!

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Und ich will auch bekennen um seiner selbst Willen, daß, wenn es auch in mir war seit langer Zeit und immer wirkte, ich den Mut, es zu bekennen, durch Nietzsche gewonnen habe, der mir dadurch sehr viel geworden ist! Es zu bekennen, nicht nur im Sinne, daß ich es ausspreche, sondern in dem Sinne, daß ich mich selbst zu ihm bekenne; denn das ist nicht leicht, wenn man daher kommt, woher ich komme.

Nun noch einige Bemerkungen dazu: Ihr werdet fragen, wie sich das mit meiner Theologie, überhaupt mit einer Theologie und Religion verträgt. Ich will das jetzt nicht beantworten; ich will nur sagen, daß es sich verträgt, und hinweisen, auf meinen vorletzten Brief3] über theologisches Prinzip und aktuelle Religion: Die höchste Leistung des theologischen Prinzips, d.h. des Paradoxes der "Rechtfertigung" ist der Begriff: Gott des Gottlosen" oder "Fromm sein als wäre man Gottlos – Gottlos sein, als wäre man fromm". Doch davon ein andermal.

Dann möchte ich nicht so mißverstanden werden, als hätte ich etwa das Ideal des "Forschers" oder des "Philosophen vom Fach" aufgestellt. Mein Ideal hat keine direkten Beziehungen zu irgendeinem Beruf. Der Forscher und der Philosoph sind eher hinderlich, da sie zu dem "(Nicht) - Wissen" führen, das aufbläht. Jeder Beruf kann in gleicher Weise zum Wissen führen, "Wissende" schaffen; wohl gibt der Gelehrtenberuf manche Hilfe, und das Ideal der reinen Objektivität hat er uns zuerst gezeigt, aber den Hilfen entsprechen Hindernisse, besonders infolge des öffentlichen Kampfes der Meinungen, der wie nichts anderes festnagelt, unfrei macht.

Darum ist auch keine Schwierigkeit, vielmehr eine Notwendigkeit, daß sich mit dem Ideal des Wissens das Ideal der Agape verbindet. Ich wäre versucht, meine Antithese auch hier durchzuführen und etwa in umgekehrter Übertreibung die Wirkungen der Liebe in Richtung des φυσιεῖν zu nennen und mir würde das nicht schwer werden; aber der Einwand, daß dies nicht die "wahre Liebe ist", liegt zu nah, als daß ich ihn herausfordern will. Ich verstehe jetzt unter "Liebe" die Kraft der "lebendigen Organisation" in Unterschied von der Mechanisierung durch das Gesetz. Nun entspricht zweifellos dem Ideal der Individuation, das ich gezeichnet habe, das der Organisation. Und in diesem Sinne stimme ich Albert zu, daß alles nach agape schreit.

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Der Krieg ist Desorganisation und Mechanisierung zugleich; der Einzelne wird zerstört, oder er wird herabgedrückt zum Maschinenteil. (Inwiefern sich im Felde, vor dem Tode, neue höhere Organisationen der Liebe bilden, ist eine andere Frage.) Aber eben um der neuen Organisation willen muß der Krieg sein; denn er ist nur der Ausdruck für das Absterbenmüssen alter Organisationen, die einst agape und Leben waren und dann Gesetz wurden und erstarrten. So ist es in der großen Politik, wo ich Albert gegen Alfred unbedingt recht gebe. So ist es im Inneren: Neue Organisationsverhältnisse aufgrund neuer Quellen der schöpferischen Liebe. Ihr erseht daraus, daß die Liebe in diesem Sinne unter Umständen hart, "antisozial", imperialistisch, ja kapitalistisch sein kann, daß sie mit Militarismus und Aristokratismus verbunden sein kann, wenn nur das Leben dahinter steht, das sich neu organisieren will von Mensch zu Mensch, von Beruf zu Beruf, von Volk zu Volk. Ich kann die höchsten Leistungen der Liebe weder in der gegenseitigen Seelsorge noch Leibessorge sehen, sondern in dem Schaffen von Beziehungen, Abhängigkeiten, inneren Lebensgemeinschaften, in dem Führen und Sich-Führen-Lassen, kurz in dem innerlichst gefaßten Organisieren aller seelischen und physischen Verhältnisse entsprechend der Wahrheit! Und damit schließen sich beide Ideale Wahrheit und Liebe zusammen und entwickeln sich subjektiv die Wahrheit zur Wahrhaftigkeit und die Liebe zur Weisheit!

Über die Weisheit wäre noch mancherlei zu sagen, dieses wahre "Formalprinzip" jeder Gemeinschaft, doch genug für diesmal!

Wenn ich das Geschriebene überlese, so habe ich das Gefühl, noch lange nicht alles gesagt zu haben, was zu sagen wäre, und andererseits viel zu viel gesagt zu haben. Es sind die feinsten, persönlichsten Dinge, die eigentlich zu fein sind, um in den Mund genommen zu werden. Ich bitte Euch darum, mir für dieses Mal die Wohltat des Briefgeheimnisses zukommen zu lassen (abgesehen natürlich von Euren Frauen). Was Ihr aber dazu sagt, falls Ihr Lust und Zeit habt, etwas zu sagen, wird mir sehr lieb zu hören sein!

In aller Freundschaft
Euer Paul
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    • Tillich, Paul, Das System der Wissenschaften nach Gegenständen und Methoden. Ein Entwurf von Paul Tillich, Göttingen 1923.