Der editierte Text

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D. 25. Aug. 1917.
Liebe a!

Hab herzlichen Dank für Deinen Brief1, den ich, da er gerade am 20. Aug. ankam als Geburtstagsbrief aufgefasst habe. Ich bin augenblicklich in sehr guter Lage; wir liegen in Ruhe, ich habe nur Sonntags zweimal zu predigen und kann die ganze Woche arbeiten, was ich mit Wut und Hochgenuß tue. Dabei gute Verpflegung infolge vieler Jagdbeute der Ärzte und schönes Wetter; was will das Herz mehr? Wenn es so immer bliebe, würde ich gern hierbleiben, denn in b käme ich nicht so billig weg. Aber es wird sich wohl bald genug ändern, und dann muss ich sehen, was sich machen lässt! – – Die Idee eines ästhetischen Thees mit dünnen Brötchen und Geistverdünnung kann mich nicht so sehr begeistern, dabei kommt wohl nicht viel raus. Ausserdem c und d, sich gemeinsam um e sammelnd, ich glaube, das ist paradox. Ich bin überhaupt dagegen, daß man sich um f "sammelt", eine "Nietzsche-Tee-Gemeinde" bildet; es geht mir wie Zarathustra, die| höheren Menschen riechen mir nicht gut genug2, wenn sie in Gemeinde-Form auftreten, d. h. es riecht mir zu verdächtig nach Selbsterhebung (mich dabei eingeschlossen, wenn ich als höherer Mensch auftrete). Über h soll man überhaupt nicht viel reden und vor allem nicht predigen; man soll ihn in sich aufnehmen, still, für sich, ein jeder nach seiner Art ihn sich aneignend; er ist nicht dazu gekommen, Gemeinsamkeiten zu schaffen, sondern Differenzen. Man kann von ihm aus (ohne ihn zu nennen) über vieles reden, aber er soll Hintergrund bleiben, sonst hebt er sich selbst auf und sammelt "Volks" um sich, das schwerer zu ertragen ist, als jedes andere Volk! Das ist eigentlich alles, was ich über i zu sagen habe. Über ihn denken tue ich noch mancherlei. – Das Genie kann mich nicht beänstigen; das ist auch so ein Wort, das mit größter Zartheit behandelt werden muß; eine klassifizierende Einteilung in Genies und Nicht-Genies ist ganz falsch; es gibt auch eine Genialität der Liebe, der Freundschaft, des weiblichen Instinktes u. s. w. Nicht intellektualistisch werden! – – –

Viel herzliche Grüße Dir und Euch allen.
Dein j.

Fußnoten, Anmerkungen

1Liegt nicht vor.
2Vgl. g.

Register

aRhine, Maria
bRixdorf/Berlin-Neukölln
cKlein, Elisabeth
dTillich, Margarete
eNietzsche, Friedrich
fNietzsche, Friedrich
gNietzsche, Also sprach Zarathustra, 1891
hNietzsche, Friedrich
iNietzsche, Friedrich
jTillich, Paul

Überlieferung

Signatur
USA, Cambridge, MA, Harvard University, Harvard Divinity School Library, Tillich, Paul, 1886-1965. Papers, 1894-1974., bMS 649/178(9)
Typ

Brief, eigenhändig

Postweg
ohne Ort - unbekannt
voriger Brief in der Korrespondenz
Brief von Paul Tillich an Maria Klein vom 19. Mai 1917
nächster Brief in der Korrespondenz
Brief von Paul Tillich an Maria Klein vom 14. Oktober 1917

Entitäten

Personen

Orte

Literatur

Zitiervorschlag

Brief von Paul Tillich an Maria Klein vom 25. August 1917, in: Paul Tillich, Korrespondenz. Digitale Edition, hg. von Christian Danz und Friedrich Wilhelm Graf. https://tillich-briefe.acdh.oeaw.ac.at/L00544.html, Zugriff am ????.

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