Der editierte Text

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D. 19. Mai 1917
Liebe a!

Herzlichen Dank für Deine beiden Briefe!1 Daß ich b gleich antwortete und Dir nicht, liegt einfach daran, daß dies eine Specialsache war, die schnell beantwortet werden mußte, während wir regelmäßig korrespondieren, wobei es ohne längere Pause nicht abgeht; welches mir klar scheint! ‒ Ich bin augenblicklich weit hinten, im Begriff jeden Tag irgendwo an der großen Kampffront eingesetzt zu werden. Ich habe allerlei Ärger und Schwierigkeiten gehabt und habe nur noch die Hälfte der Kräfte, die ich im Anfang hatte. Ich habe darum einen dritten Pfarrer beantragt, der auch schon da ist. So werde ich etwas friedlicher arbeiten können; und das ist besser als jetzt nach Hause gehen, wo ich irgendein großes Pfarramt übernehmen müßte mit einer Arbeitslast, der ich nicht gewachsen wäre. Es ist besser man bleibt hier draußen und sieht wie man sich mit {Namen, Menschen} und Granaten durchschlägt. Wenn dann wie heut z. B. ein schöner Maiglöckchenstrauß auf dem Tisch steht, dann tröstet man sich über vieles und ist dankbar, wie gut man es immer noch hat!|

Auch ich habe jetzt eine ganze Menge c gelesen, vor allem den d! Es ist nicht ganz leicht, aber dringend notwendig, seine Kritik ihm gegenüber zu behalten. Eine Dialektik fehlt ihm ganz und seine Erkenntnistheorie grenzt oft ans Naivste. Die Ethik hat mit der urchristlichen gemeinsam, daß sie als solche unanwendbar ist und völlig transformiert werden muß. Abgesehen davon aber ist seine Erscheinung von ganz unberechenbarem Wert. Der Gedanke des schöpferischen Gestaltens ist fundamental für alle künftige Systematik und die einzige Form, in der das wissenschaftliche und kulturelle Specialistentum zu einer synthetischen Kultur überwunden werden kann; und der Gedanke des „höheren Menschen“ ist, solange er erst propagiert, exoterisch gemacht wird, die Grundlage für eine Neugestaltung des kirchlichen Lebens u. s. f. – Dir wünsche ich viel Studienerfolge und Nervenberuhigung! Und gute Briefe aus Frankreich! Grüße e und die anderen alle, an die ich so oft denke. Wie gehts Deinem f?

Zum 1. Juni ist g abgegeben, ein offener Schlag für mich! Mein h war mit seinen Nerven fertig!

Sei herzlich gegrüßt von Deinem
i!

Fußnoten, Anmerkungen

1Liegen nicht vor.

Register

aRhine, Maria
bKlein, Lisa
cNietzsche, Friedrich
dNietzsche, Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwerthung aller Werthe, 1906
eKlein, Elisabeth
fKlein, Ernst August Ferdinand
gButterfelde
hWever, Wilhelm
iTillich, Paul

Überlieferung

Signatur
USA, Cambridge, MA, Harvard University, Harvard Divinity School Library, Tillich, Paul, 1886-1965. Papers, 1894-1974., bMS 649/178(9)
Typ

Brief, eigenhändig

Postweg
unbekannt - unbekannt
voriger Brief in der Korrespondenz
Brief von Paul Tillich an Maria Klein vom 26. März 1917
nächster Brief in der Korrespondenz
Brief von Paul Tillich an Maria Klein vom 25. August 1917

Entitäten

Personen

Orte

Literatur

Zitiervorschlag

Brief von Paul Tillich an Maria Klein vom 19. Mai 1917, in: Paul Tillich, Korrespondenz. Digitale Edition, hg. von Christian Danz und Friedrich Wilhelm Graf. https://tillich-briefe.acdh.oeaw.ac.at/L00538.html, Zugriff am ????.

Für Belege in der Wikipedia

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L00538.pdf