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D. 19. Mai 1917

Liebe Maria!

Herzlichen Dank für Deine beiden Briefe! Daß ich Lisa gleich antwortete und Dir nicht, liegt einfach daran, daß dies eine Specialsache war, die schnell beantwortet werden mußte, während wir regelmäßig korrespondieren, wobei es ohne längere Pause nicht abgeht; welches mir klar scheint! ‒ Ich bin augenblicklich weit hinten, im Begriff jeden Tag irgendwo an der großen Kampffront eingesetzt zu werden. Ich habe allerlei Ärger und Schwierigkeiten gehabt und habe nur noch die Hälfte der Kräfte, die ich im Anfang hatte. Ich habe darum einen dritten Pfarrer beantragt, der auch schon da ist. So werde ich etwas friedlicher arbeiten können; und das ist besser als jetzt nach Hause gehen, wo ich irgendein großes Pfarramt übernehmen müßte mit einer Arbeitslast, der ich nicht gewachsen wäre. Es ist besser man bleibt hier draußen und sieht wie man sich mit Namen, Menschen und Granaten durchschlägt. Wenn dann wie heut z.B. ein schöner Maiglöckchenstrauß auf dem Tisch steht, dann tröstet man sich über vieles und ist dankbar, wie gut man es immer noch hat!

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Auch ich habe jetzt eine ganze Menge Nietzsche gelesen, vor allem den Willen zur Macht! Es ist nicht ganz leicht, aber dringend notwendig, seine Kritik ihm gegenüber zu behalten. Eine Dialektik fehlt ihm ganz und seine Erkenntnistheorie grenzt oft ans Naivste. Die Ethik hat mit der urchristlichen gemeinsam, daß sie als solche unanwendbar ist und völlig transformiert werden muß. Abgesehen davon aber ist seine Erscheinung von ganz unberechenbarem Wert. Der Gedanke des schöpferischen Gestaltens ist fundamental für alle künftige Systematik und die einzige Form, in der das wissenschaftliche und kulturelle Specialistentum zu einer synthetischen Kultur überwunden werden kann; und der Gedanke des "höheren Menschen" ist, solange er erst propagiert, exoterisch gemacht wird, die Grundlage für eine Neugestaltung des kirchlichen Lebens u.s.f. – Dir wünsche ich viel Studienerfolge und Nervenberuhigung! Und gute Briefe aus Frankreich! Grüße Mutter und die anderen alle, an die ich so oft denke. Wie gehts Deinem Vater?

Zum 1. Juni ist Butterfelde abgegeben, ein offener Schlag für mich! Mein Schwiegervater war mit seinen Nerven fertig!

Sei herzlich gegrüßt von Deinem Paul!
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    • Nietzsche, Friedrich, Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwerthung aller Werthe, hg. von Peter Gast/Elisabeth Förster-Nietzsche, Leipzig 1906.