Brief von Paul Tillich an Richard Wegener vom 26. August 1917

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Der editierte Text

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26.8.1917
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Lieber a

Zuerst meinen herzlichen Dank für Deine Bemühungen in b! Das sieht ja glänzend aus! Ist es aber wohl nicht in dem Maße, wie mein Mißtrauen gegen so undefinierbare Arbeiten, wie die des Pfarrers, mir sagt. Immerhin ist dadurch eine wertvolle Ultima ratio, was meine Stimmung wesentlich gehoben hat. Spruchreif ist die Sache für mich erst dann, wenn ich merke, es geht hier nicht mehr so wie es gehen müßte; und zu diesem "muß" gehört auch ausreichende Zeit zu wissenschaftlicher Arbeit. In diesen drei Wochen habe ich sie gehabt und von früh bis spät ausgenutzt, so daß ich gestern schon mit dem ganzen c fertig wurde!2 Ich habe mancherlei dadurch gelernt; zuerst und vor allem die ganze Tiefe meines Nicht-Wissens in Bezug auf die Probleme und Methoden und auch wirklichen Leistungen unserer Philosophie. Da heißt es, Ungeheures nachholen, wenn ich überhaupt mitreden will, und das kann man doch sogar von einem wissenschaftlichen Theologen verlangen, geschweige denn einem modernen Philosophen. Etwas anderes, es Kennen, etwas anderes Abhängig-Sein; und diejenige Abhängigkeit, die man "Stehen in der Zeit" nennt, ist doch wohl zu verlangen, schon damit man verstanden wird. – – – Weiter habe ich gelernt, den Begriff der "wissenschaftlichen Philosophie" in seiner ganzen Bedeutung zu erfassen! Das ist wirklich Schulwissenschaft und sogar in bestem Sinne Scholastik, nämlich Begriffsklärung.|

Besonders gilt das für die Phänomenologen, die ihre ganze Arbeit den "Bedeutungen" der aktuellen Begriffe zuwenden; die Kantianer3 dagegen sind von einer erschütternden formalistischen Klarheit und Inhaltslosigkeit. m nennt alle zitierten Leute "Forscher", was mich [sic!] merkwürdig anmutete, da man diese Formulierung bisher bei der Maikäfer-Forschung bevorzugte. Was bleibt nun übrig? Philosophische Forschung und Philosophie trennen? Was macht dann aber die schöpferische, gesetzgebende Philosophie? Ist sie bloß Literatur? Muß man philosophische Wissenschaft und philosophische Literatur unterscheiden? Oder gibt es ein drittes, aus dem Inbegriff der Forschungen eine Schöpfung im alten Sinne erstehen zu lassen, die Wissenschaft und Schöpfung ist und – von der Wissenschaft als unreinlich verworfen wird? Man kann sich das ja an den sogenannten normativen Wissenschaften klarmachen: sind sie Forschung, so sind sie nur angewandte Theorie; sie enthalten keine neuen Schöpfungen, sondern lediglich normativ gewendete Wesenssätze der technischen und geistigen Funktionen. Also Theorie des Schiffsbaus und des Denkens und des Handelns ohne Schöpferisches; das Denken wäre dann überhaupt nur schöpferisch in seinem eigenen Gebiet, d. h. in der Methode oder der Gegenstandsbetrachtung. Eine neue Methode oder eine neue Entdeckung, Analog einer neuen Malweise oder einem neuen Bild – der Gegenstand wäre also immer Seiendes, nie Sein-Sollendes, höchstens die Seins-Wurzelung des Sollenden. – – – Das Schaffen wäre in der Wissenschaft immer ein Finden, als Resultat eines Suchens oder Forschens. Ist mit dieser Beschreibung nun die Sachlage bei den großen, schöpferischen Philosophen getroffen? Oder haben diese ganz anderes gewollt?|

Ich glaube fast! n sagt in seiner o: "Methoden machen Schule, Ideen Geschichte!" p Kritizismus hat Schule, seine Freiheitsidee Geschichte gemacht. q Dialektik Schule, seine Staatsidee Geschichte! Dann machte also der Philosoph durch Ideen Geschichte, der Forscher durch Methoden oder Entdeckungen Schule! Wie verhalten sich nun Ideen und Entdeckungen? Sind Ideen wissenschaftlich entdeckt? Sicher nicht, aber meistens auch nicht ohne Wissenschaft. Behandelt die Wissenschaft Ideen? Sicherlich! Aber hat sie ein Recht dazu, sie anders als objektivierend, als Tatbestand, zu behandeln? Fragen über Fragen! Doch ich will noch nicht antworten, ich will noch in die Schule gehen und – meine Ideen zur Klarheit und Sicherheit bringen! – – – Theologische Themata strömen mir nur so zu. Die Beschäftigung mit der katholischen Theologie (z. Zt. r) ist äußerst anregend. Sie treffen in ihrer Kritik fast immer das Richtige und stehen doch weit unter den Kritisierten. Die ganze Dialektik des Protestantismus ist eminent interessant, jetzt, wo wir im Wesentlichen Jenseits des historischen Protestantismus stehen. – – – Die Arbeit über das Formalprinzip ist sicher sehr ergiebig. Es wäre vielleicht nötig, hier den Begriff der "Weisheit" einzuführen; die innere Antinomie zwischen Wahrheit und Weisheit im katholischen System ist bei der Behandlung jedes Problems nachweisbar. Weiter wäre ein interessantes Thema "Theologien der Wahrscheinlichkeit", darunter könnten zusammengefaßt werden:
1) die Veritabilia der katholischen Apologethik, (die hinreichenden Gründe zur Annahme einer Offenbarung),
2) die Heils-Wahrscheinlichkeit der katholischen Dogmatik,
3) der dogmatisch-historische Wahrscheinlichkeitsbeweis| der älteren Supranaturalisten.4
4) Der historische Beweis der Ritschlianer
5) Die relative Religion von v.

Evtl. könnte noch eingereiht werden: Der moralische Gottesbeweis in seinen Kantischen Formen. – Das Gegenteil sind "Theologien der Gewißheit". Es wäre zu untersuchen und würde sich vermutlich ergeben, daß nach dem Identitätsprinzip alle Gewißheitstheologien "Geistestheologien" sind; daß die Gewißheit aus einem irgendwie formulierten Eintritt des Gegenstandes in das Subjekt abgeleitet würde. Damit hätten wir als primäres Moment eine innere Bestimmtheit, die sich durch Ausscheiden als Material-Psychologischen zu einer Kategorie eruieren ließe. Die objektive Religion stände in einem genau bestimmbaren Funktionsverhältnis (streng mathematisch) zu dieser Innerlichkeit. Die Innerlichkeit wäre dann als "theologisches Prinzip" anzusprechen, die Funktionen von da aus nach dem zu erforschenden Funktionsgesetz zu bestimmen. – – –

Ich bitte Dich nun, mir etwas Theologisches zu schicken. In erster Linie die w von x, dann, wenn es irgend geht, theologische Hegelianer5; wenn möglich käuflich; sonst, wenn Du es wagen willst, von Dir geliehen. Ist ad ae irgendwie erreichbar? An ihm läge mir sehr viel. Den af von ag sowie seine ah habe ich bei Niemann direkt bestellt. Im ai Vorlesungsverzeichnis steht meine Vorlesung über "Einleitung, etc." als erste im ganzen Buch.6 – – – Wie ist aj Wohnung?

Dein tr. ak.

Fußnoten, Anmerkungen

1Die erklärenden Anmerkungen zu vorliegendem Brief wurden (ggf. geringfügig abgewandelt) aus seiner Erstveröffentlichung übernommen.
2In dem d schreibt e, dass er sich intensiv mit Logik beschäftigt. Wahrscheinlich sind an dieser Stelle f dreibändigen ihg gemeint.
3j denkt hier an den Neukantianismus mit solchen Vertretern wie k, l u. ä.
4Der Supranaturalismus rezipiert Elemente der vernünftigen Orthodoxie, der Neologie und der pietistischen Bewegung des 18. Jahrhunderts und verbindet sich mit der Erweckungsbewegung. Der ältere Supranaturalismus gedieh hauptsächlich in Württemberg (s). In Norddeutschland war t ein bedeutender Vertreter dieser Richtung. In kurzschlüssiger Apologetik machten sich die Supranaturalisten u Beschränkung der Vernunft zu eigen und leiteten daraus die Notwendigkeit einer biblischen Offenbarung ab. Die Bibel ist wahr, weil sie der natürlichen Vernunft widerstreitet. Der Glaube sagt in der Bekehrung der Hybris der Vernunft ab und anerkennt die Autorität der göttlichen Offenbarung.
5gemeint sind u. a. y, z, aa und die Tübinger Schule, zu der zeitweilig auch ab gehört oder auch der theologiegeschichtlich wichtige Philosoph ac.
6Der Titel der nicht gehaltenen Vorlesung lautete: Einleitung in die Theologie und Religionswissenschaft (Wintersemester 1917/18).

Register

aWegener, Carl Richard
bNeukölln
cHusserl, Edmund
dBrief von Paul Tillich an Wingolffreunde vom 19. August 1917
eTillich, Paul
fHusserl, Edmund
gHusserl, Logische Untersuchungen. Prolegomena zur reinen Logik, 1900
hHusserl, Logische Untersuchungen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der ..., 1901
iHusserl, Logische Untersuchungen. Elemente einer phänomenologischen Aufklärung der E..., 1901
jTillich, Paul
kWindelband, Wilhelm
lRickert, Heinrich
mHusserl, Edmund
nLütgert, Wilhelm
oLütgert, Gesetz und Freiheit. Rede bei der Übernahme des Rektorates in der Aula der ..., 1917
pKant, Immanuel
qHegel, Georg Wilhelm Friedrich
rMöhler, Johann Adam
sStorr, Gottlob Christian
tReinhard, Franz Volkmar
uKant, Immanuel
vTroeltsch, Ernst
wTroeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, 1912
xTroeltsch, Ernst
yDaub, Karl
zMarheineke, Philipp Konrad
aaBaur, Ferdinand Christian
abRitschl, Albrecht
acWeiße, Hermann Christian
adDorner, Isaak August
aeDorner, Das Princip unsrer Kirche nach dem innern Verhältniß seiner zwey Seiten bet..., 1941
afHusserl (Hg.), Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung, 1916
agHusserl, Edmund
ahHusserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Er..., 1913
aiHalle (Saale)
ajTillich, Margarete
akTillich, Paul

Überlieferung

Signatur
Deutschland, Marburg, Philipps-Universität Marburg, Deutsches Paul-Tillich-Archiv, 008 H
Typ

Brief, als Abschrift überliefert.

Postweg
unbekannt - unbekannt
voriger Brief in der Korrespondenz
Brief von Carl Richard Wegener an Paul Tillich vom 14. Mai 1913

Entitäten

Personen

Orte

Literatur

Briefe

Zitiervorschlag

Brief von Paul Tillich an Richard Wegener vom 26. August 1917, in: Paul Tillich, Korrespondenz. Digitale Edition, hg. von Christian Danz und Friedrich Wilhelm Graf. https://tillich-briefe.acdh.oeaw.ac.at/L00545.html, Zugriff am ????.

Für Belege in der Wikipedia

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