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26. 8. 19171]

Lieber Dox

Zuerst meinen herzlichen Dank für Deine Bemühungen in Neu-Kölln! Das sieht ja glänzend aus! Ist es aber wohl nicht in dem Maße, wie mein Mißtrauen gegen so undefinierbare Arbeiten, wie die des Pfarrers, mir sagt. Immerhin ist dadurch eine wertvolle Ultima ratio, was meine Stimmung wesentlich gehoben hat. Spruchreif ist die Sache für mich erst dann, wenn ich merke, es geht hier nicht mehr so wie es gehen müßte; und zu diesem "muß" gehört auch ausreichende Zeit zu wissenschaftlicher Arbeit. In diesen drei Wochen habe ich sie gehabt und von früh bis spät ausgenutzt, so daß ich gestern schon mit dem ganzen Husserl fertig wurde!2] Ich habe mancherlei dadurch gelernt; zuerst und vor allem die ganze Tiefe meines Nicht-Wissens in Bezug auf die Probleme und Methoden und auch wirklichen Leistungen unserer Philosophie. Da heißt es, Ungeheures nachholen, wenn ich überhaupt mitreden will, und das kann man doch sogar von einem wissenschaftlichen Theologen verlangen, geschweige denn einem modernen Philosophen. Etwas anderes, es Kennen, etwas anderes, Abhängig-Sein; und diejenige Abhängigkeit, die man "Stehen in der Zeit" nennt, ist doch wohl zu verlangen, schon damit man verstanden wird. --- Weiter habe ich gelernt, den Begriff der "wissenschaftlichen Philosophie" in seiner ganzen Bedeutung zu erfassen! Das ist wirklich Schulwissenschaft und sogar in bestem Sinne Scholastik, nämlich Begriffsklärung.

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Besonders gilt das für die Phänomenologen, die ihre ganze Arbeit den "Bedeutungen" der aktuellen Begriffe zuwenden; die Kantianer3] dagegen sind von einer erschütternden formalistischen Klarheit und Inhaltslosigkeit. Husserl nennt alle zitierten Leute "Forscher", was mich merkwürdig anmutete, da man diese Formulierung bisher bei der Maikäfer-Forschung bevorzugte. Was bleibt nun übrig? Philosophische Forschung und Philosophie trennen? Was macht dann aber die schöpferische, gesetzgebende Philosophie? Ist sie bloß Literatur? Muß man philosophische Wissenschaft und philosophische Literatur unterscheiden? Oder gibt es ein drittes, aus dem Inbegriff der Forschungen eine Schöpfung im alten Sinne erstehen zu lassen, die Wissenschaft und Schöpfung ist und - von der Wissenschaft als unreinlich verworfen wird? Man kann sich das ja an den sogenannten norma- tiven Wissenschaften klarmachen: sind sie Forschung, so sind sie nur angewandte Theorie; sie enthalten keine neuen Schöpfungen, sondern lediglich normativ gewendete Wesenssätze der technischen und geistigen Funktionen. Also Theorie des Schiffsbaus und des Denkens und des Handelns ohne Schöpferisches; das Denken wäre dann überhaupt nur schöpferisch in seinem eigenen Gebiet, d. h. in der Methode oder der Gegenstandsbetrachtung. Eine neue Methode oder eine neue Entdeckung, Analog einer neuen Malweise oder einem neuen Bild - der Gegenstand wäre also immer Seiendes, nie Sein-Sollendes, höchstens die Seins-Wurzelung des Sollenden. --- Das Schaffen wäre in der Wissenschaft immer ein Finden, als Resultat eines Suchens oder Forschens. Ist mit dieser Beschreibung nun die Sachlage bei den großen, schöpferischen Philosophen getroffen? Oder haben diese ganz anderes gewollt?

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Ich glaube fast! Lütgert sagt in seiner Rektoratsrede: "Methoden machen Schule, Ideen Geschichte!" Kant's Kritizismus hat Schule, seine Freiheitsidee Geschichte gemacht. Hegel's Dialektik Schule, seine Staatsidee Geschichte! Dann machte also der Philosoph durch Ideen Geschichte, der Forscher durch Methoden oder Entdeckungen Schule! Wie verhalten sich nun Ideen und Entdeckungen? Sind Ideen wissenschaftlich entdeckt? Sicher nicht, aber meistens auch nicht ohne Wissenschaft. Behandelt die Wissenschaft Ideen? Sicherlich! Aber hat sie ein Recht dazu, sie anders als objektivierend, als Tatbestand, zu behandeln? Fragen über Fragen! Doch ich will noch nicht antworten, ich will noch in die Schule gehen und - meine Ideen zur Klarheit und Sicherheit bringen! --- Theologische Themata strömen mir nur so zu. Die Beschäftigung mit der katholischen Theologie (z. Zt. Möhler) ist äußerst anregend. Sie treffen in ihrer Kritik fast immer das Richtige und stehen doch weit unter den Kritisierten. Die ganze Dialektik des Protestantismus ist eminent interessant, jetzt, wo wir im Wesentlichen Jenseits des historischen Protestantismus stehen. --- Die Arbeit über das Formalprinzip ist sicher sehr ergiebig. Es wäre vielleicht nötig, hier den Begriff der "Weisheit" einzuführen; die innere Antinomie zwischen Wahrheit und Weisheit im katholischen System ist bei der Behandlung jedes Problems nachweisbar. Weiter wäre ein interessantes Thema "Theologien der Wahrscheinlichkeit", darunter könnten zusammengefaßt werden:
1) die Veritabilia der katholischen Apologethik, (die hinreichenden Gründe zur Annahme einer Offenbarung),
2) die Heils-Wahrscheinlichkeit der katholischen Dogmatik,
3) der dogmatisch-historische Wahrscheinlichkeitsbeweis | der älteren Supranaturalisten.4]
4) Der historische Beweis der Ritschlianer
5) Die relative Religion von Troeltsch.
Evtl. könnte noch eingereiht werden: Der moralische Gottesbeweis in seinen Kantischen Formen. - Das Gegenteil sind "Theologien der Gewißheit". Es wäre zu untersuchen und würde sich vermutlich ergeben, daß nach dem Identitätsprinzip alle Gewißheitstheologien "Geistestheologien" sind; daß die Gewißheit aus einem irgendwie formulierten Eintritt des Gegenstandes in das Subjekt abgeleitet würde. Damit hätten wir als primäres Moment eine innere Bestimmtheit, die sich durch Ausscheiden als Material-Psychologischen zu einer Kategorie eruieren ließe. Die objektive Religion stände in einem genau bestimmbaren Funktionsverhältnis (streng mathematisch) zu dieser Innerlichkeit. Die Innerlichkeit wäre dann als "theologisches Prinzip" anzusprechen, die Funktionen von da aus nach dem zu erforschenden Funktionsgesetz zu bestimmen. ---

Ich bitte Dich nun, mir etwas Theologisches zu schicken. In erster Linie die Soziallehren von Troeltsch, dann, wenn es irgend geht, theologische Hegelianer5]; wenn möglich käuflich; sonst, wenn Du es wagen willst, von Dir geliehen. Ist I.A. Dorner's Aufsatz über das Verhältnis von theologischem Material- und Formalprinzip irgendwie erreichbar? An ihm läge mir sehr viel. Den dritten Band von Husserl sowie seine Phänomenologie habe ich bei Niemann direkt bestellt. Im Hallenser Vorlesungsverzeichnis steht meine Vorlesung über "Einleitung, etc." als erste im ganzen Buch.6] Wie ist Gretis Wohnung?

Dein tr.
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    • Husserl, Edmund, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie, Halle a.S. 1913 
    • Husserl, Edmund (Hg.), Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung, Jg. 3, Halle a.S. 1916. 
    • Husserl, Edmund, Logische Untersuchungen. Elemente einer phänomenologischen Aufklärung der Erkenntnis., Bd. 2/2, Halle a.S. 1901. 
    • Husserl, Edmund, Logische Untersuchungen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis, Bd. 2/1, Halle a.S. 1901. 
    • Troeltsch, Ernst, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, (Gesammelte Schriften, Bd. 1), Tübingen 1912. 
    • Lütgert, Wilhelm, Gesetz und Freiheit. Rede bei der Übernahme des Rektorates in der Aula der vereinigten Friedrichs-Universität Halle-Wittenberg [1917], Hallische Universitätsreden, 6, Halle a.S. 1917. 
    • Dorner, Isaak August, Das Princip unsrer Kirche nach dem innern Verhältniß seiner zwey Seiten betrachtet. Eine dogmatische Abhandlung zur Feyer des 25jährigen Jubiläums des Amtsantrittes von D. Harms, Kiel 1941. 
    • Husserl, Edmund, Logische Untersuchungen. Prolegomena zur reinen Logik. Bd. 1, Halle a.S. 1900.