Der editierte Text

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D. 5. Dez. 1917.
Liebe a!

Dieser Brief soll zugleich Geburtstags- Weihnachts- und Geburtstag Neujahrsbrief sein, – natürlich wegen des Papiermangels. Als Geburtsbrief [sic!] hätte er über Dich zu reden, eventuell über Dich und mich. Da kann ich nur sagen, daß ich mich wirklich sehr gefreut habe, als ich Deinen Brief1 las, weil mir daraus immer deutlicher sprach, was ich Dir schon vor Jahren so oft gesagt hatte: die "Dame" im besten Sinne – – – . Und das [sic!] diese Entwicklung fortdauern möge, ist mein "Segenswunsch" zum Geburtstag: Dazu gehört auch das, was Du über "Selbstständigkeit" schreibst, denn ohne diese ist die Dame undenkbar. Und das hat auch Bedeutung für Deine Freunde: Je mehr Du bist ohne sie, desto mehr kannst Du ihnen geben,2 desto gleichartiger und höherwertiger wird die Freundschaft. Und dies ist die "egoistische" Seite meines "Segenswunsches". Und ich bin von beiden Seiten überzeugt, daß sie erfüllt werden und freue mich auf ein Zusammensein, das einmal frei ist von der Belastung mit Eile und| Einmaligkeit. – – Was den "Neujahrsbrief" betrifft, so müßte er sich auf den Frieden beziehen, der für Dich die konkrete Bedeutung einer Rückkehr und eines Wiederfindens im tiefsten Sinne haben sollte – das mein Neujahrswunsch. – – Und nun Weihnachten! Ich meine damit das theologische Problem, das wir angeschnitten haben! Ich bin durch konsequentes Durchdenken des Rechtfertigungsgedankens schon lange zu der Paradoxie des "Glaubens ohne Gott" gekommen, dessen nähere Bestimmung und Entfaltung den Inhalt meines gegenwärtigen religionsphilosophischen Denkens bildet. Dein Gedanke der Unendlichkeit und des Lebens spielt dabei eine große Rolle. Doch darf das nicht zu einer neuen "Objektivierung" führen. Das "Leben" als Begriff, die "Unendlichkeit" als Gegenstand sind [nicht] philosophische, problematische Gottesbegriffe; sondern es handelt sich um die innere Unendlichkeit des Lebens als Aktus, die unendliche Lebendigkeit, das Transzendieren über jeden Gegenstand und alles| Gegenständliche. Doch ist das nur die eine Seite; auf der andern steht das Ja zu allem Lebendigen und seiner inneren immanenten Unendlichkeit. Dieses Beides zusammen ist wieder eine Seite, die als Freiheitsbewußtsein einem Abhängigkeitsbewußtsein gegenübersteht von einer Wertordnung, die aber auch nicht gegenständlich zu machen ist, sondern als "Wertgefühl" bezeichnet werden kann. So zerfiele das religiöse "Weltgefühl" in ein positives und negatives Freiheitsgefühl und in ein Wert| gefühl. – Beide nun sind in sich rein "urständlich"; doch ist auch dieses nur wieder eine Seite, wenn auch die fundierende, darauf aber baut sich auf in verschiedenen Modifikationen eine "gegenständliche" d. h. ein irgendwie gearteter Gottesbegriff, dessen Problematik nun kein Hindernis mehr ist für den Glauben. Denn nicht an ihn wird geglaubt; sondern er ist die Folge eines Glaubens, der in sich selber ruht. In dieser Richtung suche ich die Lösung. –

Leb wohl, und schreibe wieder Deinem Freund
d.

Fußnoten, Anmerkungen

1Liegt nicht vor.
2Die Unterstreichungen in diesem Brief sind wahrscheinlich nicht von b selbst, sondern von c.

Register

aRhine, Maria
bTillich, Paul
cRhine, Maria
dTillich, Paul

Überlieferung

Signatur
USA, Cambridge, MA, Harvard University, Harvard Divinity School Library, Tillich, Paul, 1886-1965. Papers, 1894-1974., bMS 649/178(9)
Typ

Brief, eigenhändig

Postweg
unbekannt - unbekannt
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Brief von Paul Tillich an Maria Klein vom 15. November 1917
nächster Brief in der Korrespondenz
Brief von Paul Tillich an Maria Klein vom 21. Februar 1918

Entitäten

Personen

Zitiervorschlag

Brief von Paul Tillich an Maria Klein vom 5. Dezember 1917, in: Paul Tillich, Korrespondenz. Digitale Edition, hg. von Christian Danz und Friedrich Wilhelm Graf. https://tillich-briefe.acdh.oeaw.ac.at/L00552.html, Zugriff am ????.

Für Belege in der Wikipedia

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