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d. 24. 11. 32 Frankfurt/Main/Niederrad, Vogelstr. 111]

Lieber Herr Seeberg!

Ihr Brief2] hat leider mehrere Tage auf der Universität gelegen, ehe ich ihn erhielt. Hoffentlich hat es trotz der Verspätung noch einen Sinn, dass ich antworte. Was zunächst die Chancen für mich betrifft, so beurteile ich sie natürlich genau so negativ wie Sie. Trotzdem einen kleinen Beitrag zur Legendenbildung: Ich war in der ganzen Ministerzeit Grimmes zweimal bei ihm, einmal, wo wir uns persönlich begrüssten und gar nichts Sachliches besprachen, und das zweitemal acht Tage vor seinem Sturz3], wo ich ihn als Dekan der hiesigen Fakultät veranlasst habe, zwei vorgeschlagene Ordinarien zu ernennen, die beide politisch rechts eingestellt sind, aber bedeutende Männer sind. Der einzige, übrigens erfolglose, Beeinflussungsversuch war ein Brief4] gegen die Aufhebung der Emeritierung.

Zur Sache selbst bin ich der Meinung, dass die Dinge sich seit der Zeit, wo wie Barth sich einmal ausdrückte, zwischen ihm und mir eine unterirdische Arbeitsgemeinschaft bestand,5]sich gründlich geändert haben. Die Dialektik ist eindeutig zur Orthodoxie übergegangen. Die evangelische Kirche ist durch diese wie durch andere Entwicklungen in Gefahr, endgültig zu einer Sekte zu werden. Denn während der Katholizismus durch seine politische Macht und Wirksamkeit trotz der völligen Verhärtung seiner Lehre in ständiger Wechselwirkung mit der autonomen Kultur steht, hat der Protestantismus, wenigstens auf deutschem Boden, Kulturbedeutung allein durch seine wissenschaftliche Theologie errungen. Ich erlebe es ständig, wie selbst von den wohlwollendsten Kreisen aller geistigen in Frage kommenden Schichten des Volkes die Entwicklung des Protestantismus als völlig hoffnungslos angesehen wird, und zwar gerade wegen dervölligen Ausscheidung des autonomen und liberalen Elementes in der letzten Entwicklung. Vielleicht ist der Blick von jemand, der wie ich zur Zeit Gelegenheit hat, die Dinge mehr von aussen anzuschauen, schärfer als der Blick von jemand, der ganz drin steht. Würde die liberale Professur in Berlin6] geopfert werden und das würde sie, wenn ein Dialektiker sie bekäme, so läge das zwar durchaus in der Konsequenz alles dessen, was in den letzten zehn Jahren geschehen ist, aber es ist die Konsequenz einer auf unabsehbare Zeit sich auswirkenden sektenhaften Absperrung und Verhärtung des deutschen Protestantismus. Sie sehen, ich sehe Ihre Frage sehr ernst an. Und ich glaube, dass Sie unter diesen Gesichtspunkten eine schwere Verantwortung für die wissenschaftliche Theologie und damit für den Gesamtprotestantismus haben. Ich muss Ihnen gestehen, dass ich persönlich mit jedem Jahr mehr Respekt vor der wissenschaftlichen Anständigkeit, Sauberkeit und Wahrhaftigkeit des alten Liberalismus bekomme, wovon die jüngere Theologengeneration, so weit ich ihr direkt und indirekt begegne, kaum mehr eine Ahnung hat. Das Totschreien des Liberalismus, an dem sich der jüngste Theologiestudent, wie der älteste Generalsuperintendent beteiligen, ist in Wirklichkeit Ausdruck der Sehnsucht nach dem, was Spengler zweite Religion oder Fellachisierung genannt hat.7] Es ist die Unfähigkeit, die Verantwortung der Autonomie auf sich zu nehmen. Nun bin ich der Meinung, dass zum mindestens einzelne Persönlichkeiten wie in früheren so in dem kommenden Mittelalter das autonome Element durchretten müssen. Jedenfalls müssen wir dafür kämpfen, solange wir noch einen Rest von Möglichkeit dazu haben.

Entschuldigen Sie diese lange Ausführung, sie ist der Ausdruck einer Stimmung, die sich durch alles, was heute in der Kirche und auch jenseits der Kirche geschieht, immer mehr verstärkt hat. Für das praktische Vorgehen würde ich also in erster Linie empfehlen, Dialektiker auf der Liste zu vermeiden, und falls das im Augenblick nicht möglich ist, die Sache bis zum Abgang von Lütgert herauszuschieben und dann gleichzeitig eine liberale und eine dialektische Besetzung vorzunehmen. Lassen sich die Dialektiker nicht vermeiden, so würde ich unter allen Umständen Gogarten ausschließen, der wie ich neulich hörte, infolge seiner autoritativen Verhärtung selbst bei seinen Freunden und Anhängern Kopfschütteln erregt. Jedenfalls finde ich, dass er als Hauptvertreter der systematischen Theologie in Deutschland schlechterdings nicht in Frage kommt. Systematisch der beste ist zweifellos Brunner, aber Barth hat durch seine menschliche Breite und seine geschichtliche Wirkung den ersten Anspruch auf Nennung.

Schwieriger ist die liberale Liste. Wobbermin ist äusserst langweilig, und sein 'psychologischer Zirkel' völlig antiquiert.8] Dem gegenüber ist Stephan viel beweglicher und moderner, obgleich er auch keine durchschlagende Kraft hat. Ich würde darum eher für Stephan als für Wobbermin sein. Wehrung kommt in Frage, obwohl er keine sehr eindrucksvolle selbständige systematische Position hat. Auch von hier aus gesehen ist es vielleicht ganz gut, die Entscheidung zu verschieben, bis die Dinge im liberalen Lager sich geklärt haben.

Zur Geburt Ihres Kindes Ihnen und Ihrer Frau meine herzlichsten Glückwünsche. Um Neujahr herum werde ich in Berlin sein und den Versuch machen, Sie zu treffen.9]

Mit herzlichem Gruß
Ihr
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    Literatur:

    • Barth, Karl, Von der Paradoxie des "positiven Paradoxes". Antworten und Fragen an Paul Tillich, in: Theologische Blätter, Jg. 2, 1923, Sp. 287-296 
    • Wobbermin, Georg, Die Religionspsychologische Methode und Religionswissenschaft und Theologie (Systematische Theologie nach religionspsychologischer Methode, Bd. 1), Leipzig 1913. 
    • Spengler, Oswald, Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, 2. Bd (Welthistorische Perspektiven), München 1924 (1. Aufl. 1922).