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Stettin, Kronenhofstr 17a d. 12. Okt. 1907

Lieber Paul,

animus fert der Geist treibt mich, zwar nicht die Verwandlungen die die Götter mit alten Formen vornahmen zu besingen, aber Dich von den Verwandlungen meiner Ideen in Sachen des irrationalen u. des rationalen Mysticismus in Kenntnis zu setzen. Es wird besser sein wenn wir jene methodische Grundlegung der Theologie zum alten Eisen legen. Ich fürchte nämlich, daß der rationale Mystizismus unser gemeinsamer Feind, nicht anders als "ein hölzernes Eisen" genannt zu werden verdient. Er scheint mir eine Waffe die nicht schneidet, gegen die wir uns daher auch nicht mit einem irrationalen Saulspanzer zu schützen| brauchen, der uns doch auf die Dauer nur hinderlich wäre. Verschanzen wir uns lieber einfach hinter den Mystizismus und argumentieren e concesso, daß es sich hier eben um mysteria handelt. Das muß uns Medicus u. alle seinesgleichen zugeben. Eine Religionsphilosophie die das Mysterium aus der Religion streicht ist ja möglich kann uns aber nach dem Auftreten der Kritik der reinen Vernunft nicht mehr imponieren. Diesen Grundgedanken des seligen Kant den er ja nicht zuerst gehabt hat, können wir immer festhalten: Alles kategoriale Denken reicht an eine erschöpfende Darstellung des religiösen Erlebnisses nicht heran, u. dies Zugeständnis ist ein wesentliches Stück der Religion, so daß keine Religionsphilosophie sich ihnen entziehen darf; auf ihm beruht die Selbständigkeit u. Möglichkeit einer Religionsphilosophie gegenüber den empirischen Wissenschaften.| Haben wir das aber erst einmal fest ins Auge gefaßt, so wird eine Unterscheidung zwischen rationalem u. irrationalem Mystizismus einigermaßen schief, insofern das erste eine contradictio in adiecto u. das zweite eine Tautologie bedeutet. Du könntest mir gegen diese letztere Behauptung einwenden, daß ratio hier eben die Vernunft im Unterschied von intellectus, dem Verstand bedeute u. so jene oben genannte Unterscheidung von mysticism. rat. u. myst. irrat. möglich sei. Nun gut. Dann will ich mich jedenfalls, wie schon angedeutet nicht in Gegensatz zur "ratio" setzen u. überlasse den myst. irrat. andern Leuten. Die Finsternis eines irrat. myst. wird mir zu dick, da kann ich mich nicht drin bewegen. Ich möchte versuchen "Medicus" von einer andern Seite aus beizukommen. Dir ist bekannt, daß es sich zwischen "M." u. mir um das Persönliche in der Religion handelt: Gebet- u. Schuldbegriff. Seine Religion ist orientiert am Seinsbegriff, meine am Persönlichkeitsbegriff.| (Ich kann es nicht unterlassen hervorzuheben, daß der in meiner Religionsphilosophie als Gegner figurierende Medicus mit dem lebendigen Privatdozenten nicht einfach identifiziert werden darf; Du verstehst mich ja.) Der Seinsbegriff scheint zum Grundbestandteil des Gottesbegriffs deswegen gewählt, weil ein Sein dem Ich immanent gedacht werden kann. Das ergiebt anscheinend keine großen Schwierigkeiten, mich mit einem Gehalt einem "reinen Sein" erfüllt zu denken. Von hier aus ergiebt sich aber ebensosehr klar die Ablehnung des Schuldbegriffs,im der die Schuldder als Vergebungsbedürftigkeit, als etwas Seiendes betrachtet, u. des Gebetsbegriffs, der im Gebet etwas anderes als Selbstbesinnung sieht. Denn beides zeigt eben, daß die Verbindung zwischen Gottheit u. Mensch nicht nur auf der menschlichen Seite persönlich ist, sondern auch auf göttlichen, daß nicht menschlicher Wille göttlichem "Sein" sondern göttlichem Willen gegenüber steht. Ich habe ja an diesem Punkte keine ausführlichen Auseinandersetzungen| "M"s. Jedenfalls sind sie schon sehr lange her. Aber hier scheint mir das punctum saliens. M.", vom Ich ausgehend, macht Gott zum Korrelat des Ichs. Bei Fichte in den Atheismusstreitschriften ist das deutlich. Später findet sich formal auch die umgekehrte Konstruktion, (WL von 1810 vgl Medicus Fichte Fortsetzung 9.13. S241 ff.) aber, wie Medicus S 243 zeigt ist das im Grunde nur äußerlich: "der Ichcharakter der Lebensinhalte garantiert deren Herkunft aus dem absoluten Ich, aus Gott"). Diese Wertung des "Ichs" ist charakteristisch für Medicus-Fichte. (Hierbei möchte ich anmerken: ob Med.-F der größte der einzige d.h. die Konsequenz aller Gegner ist, wie wir damals feststellten, ist mir zweifelhaft, jedenfalls ist er der den ich am besten kenne) Was fangen wir nun mit dieser Autonomie an? Jedenfalls ist sie nicht die Rationalität das treibende in "Med"s Gedanken. Die Rationalität ist durchaus der Autonomie untergeordnet, sie1] empfängt von der Autonomie ihre Macht u. wird nötigenfalls aufgegeben (im ontologischen Gottesbeweis), wenn nur die Autonomie gerettet wird! Die Autonomie ist eine Forderung der praktischen Ver| nunft, d.h. des sittlichen Willens, sagt "Med." Daßsie diese Forderung aus dem Willen hervorgeht, ist deutlich; wie kommt aber dieser Wille dazu für sich das Prädikat: sittlich in Anspruch zu nehmen. Warum ist Freiheit göttlich? Es ist ja natürlich unmöglich jemand an dieser Meinung zu behindern, der sagt: sic volo, sic jubeo, stat pro ratione voluntas. Aber gegegenüber den Prädikaten: Freiheit, Wollen, sollen ja auch die: sittlich göttlich "ratio" zur Geltung kommen; beide Prädikatreihen sollen als zusammenstimmend, "einträchtig", würde Schlatter sagen,nach zusammen geordnet werden. Giebt es nun aber einen anderen Maßstab für Sittlichkeit Göttlichkeit, "Vernünftigkeit", als Autonomie? Das ist die Frage um die es sich Kollege "Medicus" gegenüber handelt?. Hier hat uns der alte Kant mit seiner praktischen Vernunft, die blind wie die jungen Hunde ist obwohl sie Königin der Welt sein will, in arge Verlegenheit gebracht. Vollständig zugegeben daß man zu: sittlich göttlich "vernünftig" nur auf Grund einer Gewissensentscheidung kommt, daß Wollen dabeinur die conditio sine qua non bildet, aber zwischen der conditio sine qua non u. dem eigentlichen constitutiven das Wesen eines "Gegenstandes" bildenden, ist noch ein Unterschied. Aber was ist nun das Constitutive? Wie bringen wir Vernunft u. Freiheit zusammen? Wir| sprachen damals vom Risiko u. waren geneigt uns dabei zu beruhigen. Freilich, wenn man als Ferienmensch in Wald u. See herumstreift, dann mag man sich dabei beruhigen; aber steht der ernste Schreibtisch u. die Größe des Theologenberufs als Studieninspektor vor einem, so mag man nicht riskieren. Hier muß es besser sein! Ich verstehegleiche die Anfänge der WL, die sog. 2. Einleitung (bei Medicus Fichte S 127), wo die intellektuelle Anschauung als Princip der Philosophie auftritt. Leben u. Thun der Vernunft wird durch dieselbe vom Philosophen "beobachtet". Hier geht F. deutlich über die reine Thätigkeit hinaus, er faßt sich so in der ihm gegebenen Organisation auf. Er entdeckt sich selbst d.h. er macht "Erfahrung" zur Grundposition. Freilich er grenzt diese Erfahrung als Selbsterfahrung gegen alle Dingerfahrung ab, worin ich ihm natürlich zustimme, da ich nicht gesonnen bin mich mit Spinoza in den Deus Logisches Oder-Zeichen natura zu verlieren. Aber soll mit der intellektuellen Anschauung wirklich etwas gesagt sein, dann ist Selbsterfahrung (ich gestatte freilich nicht über dem Selbst die Erfahrung zu streichen) die Grundlage. Jedenfalls ist nicht mehr die junge-Hunde-Blindheit die Grundlage, sondern das geöffnete Auge für das Selbst. Ich schaue mich selbst an, dassagt ist etwas conkreter als ich besinne mich auf mich selbst. DieVernunft Idee in mir kommt zu sich selbt mit Hegel zu| reden.Der Das mir immanente göttliche Sein gewinnt Dasein in mir. (Das ist die theologische Formel für diesen Vorgang. Verwundert erkenne ich meine trotz allem vorhandene Einheit mit Gott. Aber ist dies die tiefste Interpretation dieses Vorganges dieses angeschauten "Thuns u. Lebens der Vernunft"? Ist dies hier überhaupt an seinem tiefsten innerlichsten wesentlichsten Punkt erfaßt? Die WL ist erkenntnistheoretische Logik. Soll die Lehre vom Erkennen die Grundlage der Theologie abgeben? Ich meine es findet eine Verflachung statt, wenn man, wie es ja seit Kant Brauch ist, die Methodologie des Erkennens zur führenden Wissenschaft macht. Die größten Probleme des Lebens liegen nicht im Erkennen. Erfassen wir den Vorgang der Offenbarung u. Religion in der Erkenntnissphäre wie ich es oben zu beschreiben versuchte, so werden wir ihn doch nicht erschöpfen. Was wir erkennen haben wir um das ihm eigentümliche Leben gebracht, uns assimiliert auf Kosten seiner Eigenexistenz. Dein Vater verglich das Erkennen dem Essen, aber der Hase, den ich esse, der ist nur noch der Leichnam dessen wirklichen Hasen.Erkennen wir die Welt so lösen wir sie auf in eine toten mathematisch mechanisch wirksamen Automaten, wo sie doch die Fülle des Lebens ist. Auch wenn wir die Abbildtheorie nicht teilen, das Gewußte| u. das Lebendige Wirkliche zu identifizieren haben wir kein Recht. Das Gewußte ist das mituns Hilfe unserer Kategorien umgebildete, das Lebendige Wirkliche hat seine Eigenexistenz. Daß die Dinge eine Eigenexistenz im strengen Sinne des Wortes haben will ich nicht behaupten, sie gehenwohl unter in dem Gesamtzusammenhang des Seins. Bei den historisch wirksamen Persönlichkeiten stellt sich die Frage nach der Eigenexistenz. "Medicus" scheint sie mit seinem πληρωμα-Begriff zu beseitigen. Hier stoßen wir wieder an das große Problem: wem kommt die Eigenexistenz zu der menschlichen Persönlichkeit oder Gott. "Med" löst die Frage so: Die erstere hat ihre Eigenexistenz in der letzteren (sie ist ενυποστατος); d.h. wir haben hier wie die Kategorien der Immanenz. – Aber setzen wir diese ab, so bleibt nichts übrig als die Eigenexistenz (falls wir nicht in den Illusionismus eines Feuerbach versinken wollen um Gott zum Produkt des Menschen zu machen)als sie beiden zuzuerkennen (unbeschadet sie dessen als empfangene hat, während sie Gott a se besitzt). Wir stellen uns also das Gottesverhältnis analog vor unserm Verhältnis zu dem einzigen das uns seine Eigenexistenz kundgibt, zu den Persönlichkeiten. Unsern Gottesbegriff gewinnen wir also entweder| durch Kategorien der Immanenz oder aus der Analogie der Persönlichkeit. Denn daß das Spinozasche Ding über uns herrsche dulden wir nicht. Die Immanenz-Kategorien müßten wir auf uns nehmen wenn tatsächlich dieselben das Thun und Leben der Vernunft, das wir in uns beobachten, richtig wiedergäben. Thun sie das? Haben wir Grund, ihre eigentümlich nebelhaft berückenden aber auch verwirrenden Resultate anzuerkennen? Wir wissen unsere Eigenexistenz. Sollen wir sie so drangeben, daß wir uns nur als existierend in Gott, als zeitliche Ausgestaltungen seines πληρομα, ihn widerspiegelnde aber wie das Abendrot auf den Wolken vergängliche Abbilder seinersMajestät Lichtes erkennen? Oder sollte es uns einfallen an Gottes Eigenexistenz zu rühren, Ihn zum ordo ordinans, dersich in unserer sittlichen Tat erwüchse zu machen? Fassen wir den tiefsten Eindruck, den wir von Thun und Leben der Vernunft haben, ins Auge: den, welchen wir haben, wenn wir dem gegenüber treten, der von sich gesagt hat ο εωρακως εμε εωρακεν τον πατερα. Es handelt sich zunächst noch nicht um ihn, sondern nur um den Eindruck, den wir in uns erhalten von dem was er uns zu sagen hat. Daß dies Erlebnis nicht mit den Immanenz-Kate| gorien zu erschöpfen ist scheint mir klar. Denn in ihm erleben wir Gottes rettendes und richtendes Reden zu uns. In ihm erleben wir den persönlichen lebendigen Gott. Hier spitzt sich alles zu, die christologische wie die "theo"logische Frage, denn beides hängt ja letztlich ineinander in Frage: hat die Grundnorm seines persönliches Gottesverhältnisses für uns zwingende Macht? Freilich hier ist ein Risiko nicht zu umgehen, nämlich das: an einer Stelle etwas sagen zu müssen, wo man schweigen möchte wegen der Schwierigkeiten die jede positive Aussage hier drücken. Aber hier auf eine Aussage überhaupt verzichten ist zu bequem modern u. noch einiges mehr aber unser unwürdig. Also sagen wir etwas. Thun wir dies dann riskieren wir mit unserer Persönlichkeitsanalogie nicht mehr alssonst "Med", sind nicht irrationaler als er. Wir haben aber zwei Vorzüge: 1) einen religiös-sittlichen: Das Leben ist beherrscht von persönlichen Kategorien die in größere Tiefen hinabreichen als die Immanenz-Kategorien. Dies kann ich freilich hier nicht ausführen aber ein Vergleich einer (etwa der Kählerschen) Dogmatik mit "Med" praktischer Philosophie müßte das zeigen u. könnte es m. E. auch unschwer. 2) einen onto| logisch erkenntnistheoretischen Vorzug. Ich habe mich nie damit befreunden können daß "Ich" die reale Voraussetzung der Existenz der Dinge bin. So wenig ich, wie Dir bekannt, die Dinge an sich schätze diese Basierung des Seins auf die uns immanente Vernunft übersteigt meine Begriffe insofern als eben ihr uns-immanent-Sein ein unfaßbares bleibt. Persönlichkeit u. Vernunft alsPrincip Trägerin aller gedachten Gesetzmäßigkeit stimmt zusammen, aber unsere Persönlichkeit u. Vernunft als Trägerin aller realen Gesetzmäßigkeit nicht nur, sondern alles Seins, diese Auflösung des Weltalls in Gedachtes übersteigt mein Vermögen. Der ontologische Idealismus ist mir zu viel, er ist mir nur faßbar als Solipsismus Gottes d.h. als idealistischer "Spinozismus", u. so ist er ja auch von "Med" nicht gewollt.

Aber nun will ich schließen mit dem Ausdruck meines doppelten Bedauerns 1) daß Du all dies lesen mußt, 2) daß die Schwierigkeit der Probleme die ich aufs neue ganz empfinde mich zu nicht mehr als dieser Stümperei kommen läßt. Aber was wir in Misdroy begonnen durfte doch nicht unter dem Niveau der erreichten Erkenntnis unvollendet liegen bleiben.

Mit herzlichen Grüßen auch an die Deinen
Dein getr. F. B.
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    Literatur:

    • Kant, Immanuel, Kritik der reinen Vernunft, hg. von Jens Timmermann, Hamburg 1998. 
    • Fichte, Johann Gottlieb, Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre, für Leser, die schon ein philosophisches System haben. In: Sämmtliche Werke. hrsg. v. J. H. Fichte. Bd. 1. Abth. Zur theoretischen Philosophie. Veit und Comp., 1845, 452–518. 
    • Medicus, Fritz. J.G. Fichte: Dreizehn vorlesungen gehalten an der Universität Halle. Deutschland: Reuther & Reichard, 1905. 
    • Ovid, Metamorphosen, I 
    • Fichte, Johann Gottlieb, Die Wissenschaftslehre, in ihrem allgemeinem Umrisse, Berlin 1810.