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Bremen, den 13. Okt. 07.

Lieber Paul,

Pater peccavi ... ist mein erstes Wort. Leider ist gestern erst das Protokollbuch an Dich abgegangen! Denke Dir, ich habe es überhaupt nicht in den letztenWochen Tagen fertiggestellt! Ich habe die letzte Zeit im wahrsten Sinne des Wortes nur noch vegetiert, nicht gelebt. Man konnte am Fehlen jeglicher Willensregung deutlich sehen, mit welchem Recht Fichte dem Willen eine so bedeutsame Rolle im menschlilichen Ich zuerkennt. Ohne Wille ist das Ich tot. Aber da ich gestern Abend nach Bremen wollte, und vorher das Protokollbuch doch noch mir "aus dem Herzen, mir aus dem Sinne" mußte, geriet nun zwar nicht der Wille, wohl aber die Maschine, die man Körper und Geist nennt, energisch in| Bewegung, der Not gehorchend, nicht dem eigenen Triebe. Ich war also keineswegs in diesem Falle im Sinne Schillers ein Künstler der die Notwendigkeit mit Freiheit, umgestaltet, sondern eben eine Maschine... Der Bien' muß. Und diese Maschine schrieb und schrieb; Donnerstag bis 2 Uhr Nachts, dann Freitag, Sonnabend früh war ich fertig. Ich bin ja nun sehr geknickt, daß ich Dir das Protokollbuch nicht so sauber abliefern kann, wie Lorenz, aber... Übrigens möchte ich zu den Protokollen noch Folgendes bemerken. Bei den Kl. Chargen ist, glaube ich, doch noch ein Irrtum untergelaufen. Ist nicht Giese Lesezimmerdachs und nicht Böke? Außerdem wußte ich die Namen der Kassenrevisionskommission nicht, und hat nicht Meinhof eine Charge? Dann,ist hat Schuster nicht den Antrag gestellt, ihm das Band zu geben, oder hat er es unterlassen, weil sein Fortgehen noch nicht sicher war? In meinen| Protokollen finde ich nichts darüber. (O. und W. Schetelig sind doch nicht ums Band eingekommen?)

Endlich habe ich die Statistik noch nicht eingetragen, weil ich nicht recht wußte, ob ich den Stand zu Anfang oder Ende des Semesters nehmen sollte. Ich würde es fürs beste halten den zu Ende des Semesters aber mit Angabebei von Veränderungen der Semesterrechte etc. in Klammern (z. B. bei Mensching) und dann am Rande Verweis auf den betreffenden Konvent. Alles dies werde ich noch in Halle verbessern und nachtragen. Für die Statistik mußt Du übrigens 3 volle Seiten frei lassen, wenn Du Deine Sprüche am Schluß schreiben willst. Du weißt doch, daß Du nach Deinen eigenen Statuten jeden einzelnen A.C. B.C. P.C. unterschreiben, da wird Dein Namenszug ja famos ausgeschrieben werden Tillich1] (Leider nicht gelungen), vielleicht wird diese unfreiwillige Schreibübung (ich denke ca. 120 mal Tillich.) auch noch weitere| segensreiche Folgen für Deine Schrift überhaupt haben; in Deinen Briefen sind mancheBriefe Worte recht schwer entzifferbar.

Also seit gestern Abend bin ich hier und bleibe hier bis ich nächsten Freitag gen Halle dampfe. Kerl, nach Halle! Beneidenswerter Gedanke. Wie ich die letzten Worte im Protokollbuch schrieb, wurde mir etwas wehmütig zu Mute, denn ich dachte, mancher kommt nach Halle nicht zurück. Zu diesen Unglücklichen gehörst leider auch Du.

Ob Du nicht vielleicht doch zur Antrittskneipe kommst und zugleich das Anfangskolleg, des berühmtesten, in Europa gelesenen Kollegs hörst?

Nach Berlin komme ich natürlich im Februar mit 1000 Freuden! Jetzt schon besten Dank für die freundliche Einladung und die 10 M. Also dies ist epistola I. Ich bitte genau zu zählen! Von Büchsel hatte| ich kurz vor seinem Examen eine Karte. Er schrieb unter anderm, daß wir auf dem Tiefinnerlichen bei Ritter nächstes mal Heims Kuhzunft2] erörtern wollten. Famose Aussichten! Das ist ja schlemmerhaft, daß Du ihn in Stettin heimgesucht hast. Daß du noch einmal in Misdroy warst, finde ich genial.

Heute Morgen war ich hier in einer großen Haupt- und Staatsaktion, die für die Kirchenpolitik nicht ohne Bedeutung sein dürfte. Der Nachfolger Kalthoffs Pastor Felden wurde eingeführt. Du hast gewiß schon von diesem, neuen komplicierten "Fall" gehört. Felden hat ein angenehmes, fließendes Organ, auch der Inhalt seiner Rede war nicht so übel. Aber, wie ich durch Pastor Büttner hörte, ist er ein Mann, der sich schnell totpredigt. Schon in dieser einen Predigt wiederholte er sich etwas. Neben dem bedeutenden Kalthoff ist er jedenfalls nur ein| kleines Licht. Der ganze "Gottesdienst" hatte für mich etwas eigenartiges. Die Kirche war recht voll. Der interessante "Fall"ha war natürlich durch alle Zeitungen gegangen und hatte eine Menge Neugieriger herbeigeführt, eine Menge, die nicht den Eindruck einer Gottesdienst feiernden Gemeinde machte. Die Einführung fand in der alten ehrwürdigen Martini-Kirche statt. Der Gottesdienst begann mit dem Wort: "Die Liebe Gottes und der Geist sei mit uns allen" eine geschickte Auswahl! Nur was war es für ein Geist, der dort wehte. Ich glaubte immer, die alten Kirchenmauern könnten ihn nicht ertragen und könnten jeden Augenblick über dieser frivolen Menge zusammenbrechen. Aber sie blieben ruhig und fest stehen, und ich dachte, sie haben schon mal einem niederreißenden, brausenden Strome standgehalten, als es mit Luther hieß: die Kirche ist nichts, der Pabst| ist nichts. Und ich fragte mich, ist die Berandung von heute, die durch den Gegensatz zwischen alt und neu hervorgerufen wird, stärker als damals?

Und was war das Neue? Religion ist derl Gegenwart leben,d an die Zukunft glauben. Die größte Sache ist, nicht seiner eigenen Individualität zu folgen, sondern irgendeinem äußeren Zwange. Keine Autorität mehr. Alle Wahrheit bleibt für uns nur relativ. Das Streben nach Wahrheit (Lessing) ist das höchste. Immer sich wieder dem Neuen bedingungslos in die Arme werfen.

War das religiös? Was nach alter Anschauung von religiösen Momenten in dem ganzen "Gottesdienst" vorkam, das war das ganz unvermutet nach der "Predigt" gesprochene Vater Unser, und der Segen nach dem letzten Lied, der einem auch ganz| überraschend kam. Bei beiden hat man den peinlichen Eindruck, ein alter Zapf, der wirklich nicht mehr hierhergehört, eine Form, die man um der Behörde und des Friedens willen beibehalten hat.

Ich habe jetzt ein Buch von Kalthoff. Das muß aber doch ein hervorragender Mann gewesen sein! Wirklich begabt!

Nach der Kirche sah ich auch Graeber und Bronisch und Pabst Stoevesandt. Laß’ den Graeber am nächsten Samstag aber nicht zu viel auf dem Konvent reden!

Bronisch soll nächstens auch mal zu uns kommen und von der Versammlung der Freunde der christl. Welt erzählen, der er in Marburg beigewohnt hat. Pastor Büttner erzählte schon von den interessanten Verhandlungen. Hast Du auch schon von der Schwenkung Troeltschs gehört zur Metaphysik hin, veranlasst durch Portigs Buch!!– Falls Du mir ein Lebenszeichen geben willst, meine Adresse: bei Missionsinspektor Schreiber, Bremen,

Ellhornstr. 12
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Herzlichst Dein Hans.
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    Literatur:

    • Heim, Karl, Das Weltbild der Zukunft. Eine Auseinandersetzung zwischen Philosophie, Naturwissenschaft und Theologie, 1904 
    • Portig, Gustav, Die Grundzüge der monistischen und dualistischen Weltanschauung unter Berücksichtigung des neuesten Standes der Naturwissenschaft. Deutschland: M. Kielman, 1904.