Der editierte Text

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a, d. 21. 6. 21
Lieber b,

es ist mir nicht leicht, innerlich zur Klarheit zu kommen, darum habe ich mit einer umgehenden Antwort gezögert. Ich habe ja keine Ahnung gehabt, dass für Dich solche Fragen bestanden. Ich wäre immer zur Gemeinschaft auch in solchen Nöten bereit gewesen. Aber Zeit und Raum lagen zwischen uns, und wir haben uns immer nur kurz und fragmentarisch sehen können. Wenn ich jetzt mit Dir reden könnte, würde es vielleicht leichter sein. Ich habe, wie Du ja wohl weißt, eine große Scheu, in anderer Menschen Leben zu dringen. Ich warte immer ab, was mir freiwillig an Gemeinschaft geschenkt wird, und die Fälle, wo ich einen Menschen „aufschloß“, gehören für mich zu den großen Taten, die ich mit seltener Bewußtheit und als ein Wagnis vollzog. Ich will darum heute einfach auch Herz gegen Herz setzen, und von mir selber reden. Das ist dann als eine Bitte gemeint, auch von Dir mehr zu reden.

Ich habe eigentlich für ein Freundsch.verh. zu Frauen nur eine Formel: der Frau zur Schwester werden, d.h. den Geist und den Willen des Mannes in eine Zartheit und Weiblichkeit umsetzen, in der sie von der Frau verstanden werden können. Die weibliche Denk- und Lebensform annehmen, um damit den männlichen Gehalt assimilierbar zu machen. Dabei scheue ich alles Erotische als eine Gefahr für meine Aufgabe an der Frau, der ich etwas sein möchte. Ich würde sonst ihr dienstbar, d.h. ich gäbe ihr die Möglichkeit, immer, wenn der Freund und Seelsorger etwas zu fordern, etwas zu beugen hat, an den amoureux zu appellieren und so auszuweichen. Soll mein Schwert bis auf den Grund bohren können, so muß es gehärtet sein bis in die Spitze hinein. Ich weiß, daß ich mehreren Frauen durch diese Sachlichkeit und Unempfänglichkeit für jeden Augenaufschlag einen Eindruck habe vermitteln können, daß es noch jenseits des erotisch gefärbten Verhältnisses Liebe und Gemeinschaft gibt.

Setze ich diese meine Praxis in Beziehung zum Gedanken der Liebe, so steht es für mich so: absolute Liebe, Liebe, die ganz und rein ist, muß überall da unerotisch sein, wo man den Menschen nicht heiraten will. „Nur in heilig zarten Händen, Händen, die nicht wehe tun, Händen, die ganz stille halten, kann ein reines Herze ruhn.“ Ich würde selber auch Freude und Anregung haben, wenn ich dem erotischen Spiel einen Einschuß gestattete. Aber – ich suchte ja dann das Meine, nicht das, was des anderen ist.

Eine Gefahr ist bei dieser Art zu handeln: sie führt leicht dazu, daß man etwas angeschwärmt (angestaunt) wird. Und das schließt in mir Kraft zu. Es drückt und langweilt mich. Aber ich habe die Überwindung, schließlich selbst das zu tragen. Vieles läßt man sich still gefallen, wenn es um des anderen willen nötig ist, und schließlich lassen sie auch das, wenn sie merken, dass es nur Liebe ist, die das still an sich abgleiten lässt. Meist findet man dann auch den Übergang zu einem anderen Gegenstand von selbst.

Wenn im Herzen der Brunnen reiner Liebe quillt, die auch die eigne Seele einsetzt, so lernt die Frau es gerne, jede Fama und Zurückhaltung in der Freundschaft zu tragen.

Vergleiche ich damit Deine Äußerungen, so fällt mir als der eine entscheidende Punkt auf: dass Dir die Frauen doch zum Mittel Deiner Geistigkeit werden. Ich möchte lieber ungeistig sein, lieber nicht wirken, als eine Freundschaft zur Erhöhung meiner Kraft brauchen. Schenkt Gott mir nicht eine solche Erhöhung auf meinem Wege (aber er tut auch das), so muß ich halt verzichten. Es kommt ja nicht darauf an, dass der c nun etwas werde. –

In meinen schwersten und dunkelsten (auch rein physisch dunklen) Zeiten hier habe ich Leben und Glauben behalten durch die Freundschaft mit dem Weibe eines anderen. Wir brauchen ein Echo, wir brauchen eine Seele, die das, was wir sein wollen und werden wollen, empfindet. Es muß auch das so merkwürdige Dasein des Geistesmenschen, der in einen ungesehenen Acker hinein sät, dadurch erleichtert werden, dass sich eine stellvertretende Seele findet, an der man ahnen | lernt, dass es doch nicht vergebens und sinnlos sei, was man will. Aber ich habe diese Freundschaft an dem Weib des anderen unter die Regel gestellt, dass sie ihr die eigene Ehe inniger und stärker mache, dass der Mann dadurch gewinne. Ich glaube, der Mann ahnt nicht, wie viel ich ihm für seine Gemeinschaft mit seinem Weibe geschenkt habe und schenke. Und all das wäre in dem Augenblick zerstört, wo ich die Innigkeit einer absoluten Liebe erotisch und sei es auch nur andeutend, symbolisieren wollte. Sie könnte nicht zu mir, und ich nicht zu ihr im Namen Gottes reden und heilige Gebote aufstellen. Und was ist alle Freundschaft, wenn nicht Gottes Auge darüber steht, wenn nicht das Vertrauen auf die Einheit des Gewissens des anderen mit dem heiligen und reinen Einen da ist, wenn man nicht gehorchen kann? –

Du weißt oder ahnst ja wohl, dass ich auch einmal eine kannte, die ich ganz begehrte, und die einem anderen gehörte, ohne dass ich es ahnte, und dass ich dann auch, als sie Frau war, viel mit ihr zus[ammen] war, immer das Sehnen im Herzen. Aber da ist mir gerade aus meiner Liebe die Kraft erwachsen, mit schweigenden Lippen meinen Weg zu gehen, mit einem reinen und heiligen Herzen (wenn ich es je hatte, hatte ich es da) meinen Weg zu gehn. Der Mann hätte die heimlichsten Gedanken meiner Seele wissen dürfen. Es ist ein Weg mit viel Tränen und durchwachten Nächten gewesen, und ein fröhlicher und kindlicher oder dem scharfen Denken gewidmeter Tag der Gemeinschaft ist mir erkauft worden durch bange einsame Stunden. Aber in dieser Zeit habe ich auch meinen Gott kennen gelernt. Damals bin ich der Mann mit dem theistischen Gottesglauben geworden, der sich in Deine Glaubenswege jetzt nicht finden kann. Damals bin ich in d und e hineingewachsen. Nicht dass mich die Reinheit Kraft gekostet hätte, aber das Schweigen, das Schweigen, und das frohe Gesicht, und der Wille, nicht den ganzen Schmerz durch eine Aufhebung der Gemeinschaft auf ein Gleichmaß zu dämpfen. Und da habe ich gelernt, wie reine Liebe mit Frauen umgehen soll, nein nicht gelernt, sondern erfahren.

Ich habe Gottes Wege wohl verstanden. Da ich den Willen zu meinem Werke als den stärksten in mir fand, da ich den Geistesmenschen, der von sich und den Seinen Entsagung fordern muß um seines Schaffens willen, der auf den Seinen auch lasten kann, nicht dem Liebenden aufzuopfern bereit gewesen wäre, hätte ich ja sie durch Stürme und Nöte und Opfer hindurchreißen müssen, denen sie nicht bestimmt war, und darum durfte ich sie nicht bekommen. Und was ich damals gelernt habe, was damals in meiner Seele lebendig geworden ist, das hat mich erst tauglich gemacht für mein Werk.

Du bist der erste, und wohl auch der letzte, den ich in all das ein wenig hineinschauen lasse. Von da aus wirst Du verstehen, daß ich mich in Deine Art nicht finden kann, daß ich an ihr, was Du auch an Zartheit und Güte haben mögest, die ganze Liebe und den ganzen Ernst der Gemeinschaft vermisse.

Ich bin ein Mensch mit vielen Mängeln, und meine immer etwas „gespannte“ Art macht es vielen schwer, mit mir fertig zu werden. Du bist mir darin überlegen. Aber, ob der Preis nicht zu hoch ist, den Du zahlst. ---

Ich habe eine ganz bestimmte Art, auf Studenten (Männer) zu wirken. Ich nenne sie die verschlossene Gemeinschaft. Ich beobachte, und habe über jeden mein Urteil, auch eine bestimmte Seelengeschichte legt sich vor m[einen] Augen oft bloß, ohne dass ich eine Konfession empfange. Und dann spreche ich – jeden Morgen 1/4 Stunde an der Stiftstafel – alle persönl., theol., geist. Fragen durch, von denen ich meine, daß sie durch die Herzen gehn. Welch ein Echo das weckt, weiß ich von mir aus nicht. Bei einer Anzahl, den stumpfen und unbeweglichen, keins, keins. Andern aber werde ich doch mit der Zeit ein Faktor in ihrem Leben, und jedes Semester finden sich ein oder zwei, denen ich es abzufühlen glaube, dass sie mir viel, z.T. | Entscheidendes verdanken. So bleibt ihnen ganz ihr Geheimnis, und es ist doch auch eine Seelsorge. Anders werde ich an Männern, von akuten prakt. Nöten abgesehen, nie Seelsorge treiben. Jene Freundin hier, von der ich zuerst sprach, meint immer: sie, die direkte Seelsorge treibe, z.B. an den gleichen Menschen, sei immer wieder erstaunt, wieviel sich auch auf Umwegen erreichen ließe. Ist es nicht so gemeint auch mit dem Samen des Sämanns? Es ist so unpietistisch, und also auch so unromantisch wie möglich, und Stimmungen gibt's selten. Es gibt nur Gedanken, wenn auch oft Herzgedanken. Es ist die Art, wie ich selbst von Menschen geformt bin. Ich erinnere mich nicht, je eine eigentliche Beichte abgelegt zu haben.

Ich habe zu m. Erstaunen gesehen, dass diese Methode auch auf Frauen nicht unübertragbar ist. Aber meist müssen die Frauen Unmittelbares haben, und wenn sie den Mut haben, es mich merken zu lassen, gebe ich es ihnen auch. Auf welche Weise, sagte ich oben. –

Ob man aus den erotisch gefärbten Erlebnissen wirklich dauer[nden] Gewinn für sein Werk hat??? f, alles das was ich an Deiner geist. Produktion kritisiere, das Ästhetisierende, Geistreiche, das nicht ehern und stählern genug Seiende, der Mangel an strenger Zucht in manchen Dingen, all das bringe ich nun mit dem zusammen, was Du mir von Deiner Art, Schwungkraft zu bekommen, sagst. Kappst Du nicht vielleicht den Baum, damit die Zweige aus dem Stumpf desto schneller und mannigfaltiger schießen? Hast Du einen „langen Willen“, einen Willen, der ein Jahrfünft oder ein Jahrzehnt an eine einzige Wurzel setzen kann? Wer das Kanaan einer großen eigenen geistigen Schöpfung erreichen will, muß lange Wüstenstrecken mit viel Staub ziehen können. Die g Methode ist falsch. h, der weniger Begabte, der Mann mit dem Mut zur Frohn, in der Wüste, hat ihn geschlagen. –

Nun die praktischen Fragen: 1. Über das, was Du an Deiner Frau tun wirst, will ich nicht mehr urteilen, jedenfalls nicht auf Grund rein brieflicher Auseinnadersetzung. Ich erkläre mich nicht für überzeugt. Man muß auch feine Netze von lieber Hand, wie die der i, zerreißen können. Und ich glaube nicht, dass da, wo ein erotisches Band mit Schuld befleckt wurde und dann zerriß, daß da zwei Menschen noch Aufgaben aneinander haben. Ich würde Deiner Frau eine andere Hilfe zuzuführen suchen und, wenn die Begegnung am dritten Ort unvermeidlich ist, der Höfliche sein, der einer Dame begegnet. Aber ich will darüber lieber mit Dir reden, wenn es an der Zeit ist. Jedenfalls bin ich bereit, diesen Punkt im Augenblick ganz auszuscheiden. Für später muß Gott Dir raten. 2. Deine Frage, ob der noch übr. bleibende Punkt mit Deiner Stellung als Privatdozent der Theologie verträglich ist, will ich im Augenblick nicht beantworten, -- weil ich es noch nicht kann. Meine Seele muß sich darüber noch mit einer höheren Instanz besprechen. Ich neige zum Nein, aber wenn ich es wirklich sagen muß, so will ich es auch verantworten können mit allen eventuellen Folgen. Meine allgemeine Meinung, dass der Weg von j für Dich der richtige wäre, kennst Du ja. Die Spannung kannst Du Dir auch ohne das äußere Band einer theologischen Fakultät erhalten. Aber ich glaube nicht, dass ich die spezielle Frage, ob gerade dieser Punkt zum Vollzug der Scheidung von der Theologie nötigt, auf Grund allein Deines letzten Briefes entscheiden kann. Bedenke nur eins: es herrscht unter den Studenten eine | erstaunliche Unklarheit über Ehe und Erotik und dgl. Viele nehmen sich das Recht, das Du Dir nimmst, und nicht alle sind Geistesmenschen wie Du. Was soll aus unserem evangelischen Volk und unserer evangelischen Kirche werden, wenn unsere Theologen, durch missverstandene oder bedenkliche Beispiele an ihren Führern veranlasst, den Weg des Fleisches in diesen Dingen wandeln? Aber ich will in diesem Brief nur das Problem stellen; wie ich sprechen werde, weiß ich noch nicht. 3. Ich werde dem betreffenden Herrn Deine beiden Erklärungen mitteilen. Zur ausdrücklichen Zurücknahme zwingen will ich ihn nicht. Dazu ist die Grundlage, auf der Du stehst, zu angefochten. Ich werde aber bitten, Deine Ehre nicht durch leichtfertiges Gerede in den Staub zu ziehen, und zarte und verwickelte Dinge unzart und brutal zu deuten. Mehr kann ich nun nicht, und auch das erscheint mir, wenn er (was ich nicht weiß) ein entschlossener und brutaler Charakter ist, nicht unbedingt erfolgreich – Du weißt wohl, wer der über diese Briefe stehende Schutzengel ist.

Dein k.

Fußnoten, Anmerkungen

Register

aBonn
bTillich, Paul
cHirsch, Emanuel
dPaulus
eLuther, Martin
fTillich, Paul
hHegel, Georg Wilhelm Friedrich
iSydow, Gertrud von
jScholz, Heinrich
kHirsch, Emanuel

Überlieferung

Signatur
USA, Cambridge, MA, Harvard University, Harvard Divinity School Library, Tillich, Paul, 1886-1965. Papers, 1894-1974, bMS 649/152
Typ

Brief, eigenhändig

Postweg
Bonn - unbekannt
voriger Brief in der Korrespondenz
Brief von Emanuel Hirsch an Paul Tillich vom 14. Juni 1921
nächster Brief in der Korrespondenz
Brief von Emanuel Hirsch an Paul Tillich vom 28. Juni 1921

Entitäten

Personen

Orte

Zitiervorschlag

Brief von Emanuel Hirsch an Paul Tillich vom 21. Juni 1921, in: Paul Tillich, Korrespondenz. Digitale Edition, hg. von Christian Danz und Friedrich Wilhelm Graf. https://tillich-briefe.acdh.oeaw.ac.at/L00716.html, Zugriff am ????.

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{{Internetquelle |url=https://tillich-briefe.acdh.oeaw.ac.at/L00716.html |titel=Brief von Emanuel Hirsch an Paul Tillich vom 21. Juni 1921 |werk=Paul Tillich, Korrespondenz. Digitale Edition. |hrsg=Christian Danz, Friedrich Wilhelm Graf |sprache=de | datum=21.06.1921 |abruf=???? }}
L00716.pdf