Der editierte Text

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a, d. 28.6.21
Lieber b,

ich danke Dir f. D. Brief. Ich habe die Tage bis jetzt natürl. viel an Dich gedacht und immer wieder die Sache durchdacht. Die Hoffnung, die Du gibst – schnelle Wiederverheiratung – würde ich für die schönste und glücklichste Lösung aller Probleme halten. Sie würde Abkehr u. Rehabilitation in einer Weise verbinden, die Dich noch dazu glückl. macht.

Dem c d, mit dem ich in Deiner Sache in Korrespondenz bin, habe ich noch am Samstag in einem sonst rückhaltlosen Briefe – zu verderben war nichts mehr – mitgeteilt, daß ich die Äußerung des Mädchens natürl. f[ür] übertrieben u. irreführend hielte. Bei dem betr. Mann hat sie Dir auch nichts geschadet, er ist faktisch schönster Philister, aber theoretisch von der Problematik angesteckt und möchte gern genial sein. Aber sonst beurteile ich Deine Lage als stark gefährdet, nach dem, was Stud. und Doz. über Dich diskutieren. Es ist ein Zufall, dass es noch z. keiner Unannehmlichkeit mit der Fakultät gek[ommen] ist.

Also, wenn ich auch nicht an fluchtartige Verlassung gedacht habe, und mit der Auffassung, eine unauffällige Hinüberentwicklung sei das Beste, zusammenstimme, -- es kann Dir in der Wartezeit allerlei noch geschehen.

Wenn ich über Deine äuß. Zuk. nachdenke, so komme ich stets zu dem Ergebnis: Du hast als Philosoph, sobald Du bekannt bist, gute viell. sogar glänzende Aussichten, als Theolog keine. Du wirst ja von der Fakultät geholt werden als Ord. f. syst. Theologie, und wenn – so ruiniertest bei der religiösen Haltung Du durch Annahme eines solchen Rufs die betr. Fakultät. Die e’sche Entsagung, die Dich als Theologen erträglich machte, würdest Du nicht aufbringen. Und wenn, so würdest Du Dich ebenso verstümmeln wie f sich. Das Paradox würde in einen kirchlichen Skandal auslaufen müssen.

Also, auch aus reinen Zweckmäßigkeitsgründen ist die | Philosophie Deine natürliche Zukunft. Aber freilich: Philosophie aus ein[em] des Paradoxes ohne äußere Anregung {¿¿¿} fähigen Herzen.

Es ist ja oft so, dass wir durch einen äußeren Anstoß erst auf den uns gemäßen Weg kommen. So bin ich durch Deinen Stoß nach g in die akademische Laufbahn gekommen (was ich nie vergessen werde).

Herzlich
Dein h

Alle Fakultäten sind nur mit einer bestimmten praktischen Abzweckung denkbar. Medizin – Arzt. Jus – Anwalt, Richter, Regierungsrat. Theologie – Pfarrer der gegebenen ev. Landeskirche. Philosophische Fakultät – der Rest akademischer Berufe. Man darf also den Charakter einer Fakultät nicht nach der reinen Systematik der Wissenschaften bestimmen. Was die Theologie in dieser Systematik ist, ist gleichgültig: die Fächer der theologischen Fakultät sind bestimmt durch das, was landeskirchliche Pfarrer als wissenschaftliche Berufsausrüstung brauchen, und darum auch eine methodisch höchst anfechtbare Zusammenstellung. Die Systematische Theologie insbesondere ist, da hat i recht, eine sehr praktische Disziplin. Wirklich Wissenschaft in der theologischen Fakultät ist allein die Historie.

Nachwort, als Vorwort zu lesen.
Lieber j, ich habe nun alle Quisquilia beiseit gelassen und einen Brief geschrieben über die wesentlichen Punkte. Hoffentlich verstehst Du ihn. Politische Leidenschaft ist in meinen Briefen vom Winter 1918 gewesen, aber in dem vorigen und diesem wahrhaftig nicht. Es ist nur, das kann ich nicht leugnen, Leidenschaft für das Evangelium drin. Aber hast Du nicht auch Leidenschaft für Dein Erleben. Ein rechter Mann muß in diesen Dingen sein ganzes Herz einsetzen.
Ich hätte Dir auch ganz rein dialektisch-wissenschaftlich schreiben können, und hätte wahrscheinlich größeren Eindruck gemacht. Mir ist das, was ich historisch, logisch und dialektisch einwende, wahrhaftig nicht bloß Mittel zum Zweck. Es gilt auch abgesehen von der anderen Gesinnung in den Ewigkeitsfragen.
Du sagst, ich sei prot. Theolog und Kantianer, und das ist in Deinen Augen genau so schlimm, als wenn ich Dich einen Kreaturvergötterer heiße. Auch hier bist Du mir nicht voraus in dem Sinne, dass Du aber dialektisch gegen einen Prediger kämpftest. Es ringen eben zwei Geister, Geist in jedem Sinn des Wortes genommen, in unserem Streite.
Es tut mir leid, dass ich gerade eine bittere Zeit in Deinem Leben getroffen habe. Mögest Du bald befreit sein von allen diesen Peinlichkeiten. Und vergiß nicht, k, dass ein fester, rücksichtsloser Wille oft die beste Gnade und Barmherzigkeit ist, | auch gegen die, gegen die er sich wendet. Quod deus bene vertat. –
Allezeit
Dein l.


Fußnoten, Anmerkungen

Register

aBonn
bTillich, Paul
cBerlin
d???, ???
eOverbeck, Franz
fOverbeck, Franz
gGöttingen
hHirsch, Emanuel
iSchleiermacher, Friedrich Daniel Ernst
jTillich, Paul
kTillich, Paul
lHirsch, Emanuel

Überlieferung

Signatur
USA, Cambridge, MA, Harvard University, Harvard Divinity School Library, Tillich, Paul, 1886-1965. Papers, 1894-1974, bMS 649/152
Typ

Brief, eigenhändig

Postweg
Bonn - unbekannt
voriger Brief in der Korrespondenz
Brief von Emanuel Hirsch an Paul Tillich vom 21. Juni 1921
nächster Brief in der Korrespondenz
Brief von Emanuel Hirsch an Paul Tillich vom 14. April 1933

Entitäten

Personen

Orte

Zitiervorschlag

Brief von Emanuel Hirsch an Paul Tillich vom 28. Juni 1921, in: Paul Tillich, Korrespondenz. Digitale Edition, hg. von Christian Danz und Friedrich Wilhelm Graf. https://tillich-briefe.acdh.oeaw.ac.at/L00720.html, Zugriff am ????.

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