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den 01.07.1921

Geliebte Hannah!

Allerdings habe ich mit dem Brief so lange gewartet, weil ich auf eine andere Adresse hoffte; und dann kam Wochenende, wo nichts ankommen soll. Dein Brief hat mich sehr bewegt; er ist mir eine große Freude gewesen, insofern er Deinen Mann angeht, und eine Sorge, soweit er Dich betrifft. Du warst mir fern, als Du ihn schriebst; weil Du in Dir selbst den Beginn des eigentlichen Kampfes erlebtest. Denn der Kampf fängt erst in dem Moment an, wo es zur Wahrheit kommt, daß beide Seiten von innen her gleich stark sind. Ich bin froh, daß Du so weit bist; denn nun ist nur noch ein Schritt zur letzten Wahrhaftigkeit; und ich bin in Sorge, denn ich weiß, mit welchem Schmerz er verbunden ist. – Ich kann nun nichts weiter tun als warten und in jedem Moment mit voller Liebe bei Dir sein, mit der Liebe, die gleich wie die Deines Mannes bereit ist, auch auf Dich zu verzichten um des Ewigen willen, was unsere Liebe in sich trägt. Du schreibst, wir sollten nicht Dich lieben, sondern die Liebe, mit der wir Dich lieben; das ist mehr; aber es ist kein Gegensatz; denn es gibt kein „würdiges“ Objekt absoluter Liebe; alle absolute Liebe ist paradox; sie sagt absolut „Ja“ zu dem, was relativ ist um der Offenbarung des Absoluten willen, das durch das Relative hindurchleuchtet. Das Urteil der Liebe hat immer die Gnade in sich, die das Böse nicht achtet, obgleich sie es sieht und verneint. Dieses ist die absolute und unbedingt feste Grundlage unserer Liebe, wie jeder Liebe; und diese Liebe ist wirksam in jedem Verhältnis der Menschen zu einander und gibt erst das Recht zur Kritik und zur Gemeinschaft. Aberdi auf diesem Fundament, das erst einmal fest sein muß, baut sich nun mancherlei auf, und hier hat das Individuelle und frei Schöpferische, die Tat, die etwas Absolutes setzt, aus irrationalen Tiefen, seinen| Platz. Vor einer solchen Tat stehst Du jetzt, mehr noch als ich; denn für mich ist nur die positive Aufgabe gegeben, für Dich dazusein; für Dich auch noch die negative, für einen anderen nicht mehr so dazusein, wie Du es bisher warst. Jede Schöpfung ist mit einer Zerstörung verbunden, und es ist die Frage, ob Du die Verantwortung für die Zerstörung tragen kannst, ob Dir der Wert der Neuschöpfung so groß erscheint, daß Du die Schmerzen, die sie bringt, bei Dir und dem anderen, bejahen kannst. Dieses allein, Hannah, ist der Punkt, auf den jetzt alles ankommt, nachdem wir in den letzten Wochen und jener Nacht, wo Gott uns umfing, die Grundlage gelegt haben, die alles egoistische Wollen ausschließt. Du weißt, daß es für mich keinen Zweifel mehr gibt, daß ich entschlossen bin, jeden Schmerz für mich und andere (was das Schwerere ist) zu tragen. Ich halte diese Schöpfung für so bedeutsam wie das Werk, zu dem wir berufen sind, ja ich glaube, daßdieser unser Werk Dir und mir nur zur Vollendung wachsen kann auf Grund der Schöpfung unserer Gemeinschaft.

Freilich heißt es nun, diese Tat so zu tun, daß sie von vorneherein zwar des anderen Schmerz als Notwendigkeit und eigenen Schmerz in sich aufnimmt, aber des anderen Seele erhebt und stark macht; und dazu gehört, daß wir um seine Gemeinschaft ringen, nicht nur Du, sondern auch ich; daß wir ihm den Sinn alles dessen offenbaren, was in uns ist. Und darum, Hannah, bin ich bereit, nach Weihnachten, zu Neujahr oder kurz nachher, zu Euch zu kommen.

Ich bin ganz ruhig Hannah, so wie es Schelling sagt, daß die höchste Bewegung zugleich die höchste Ruhe ist; ich ruhe durch Dich in Gott.

Paul.
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