Der editierte Text

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a, d. 14.6.21
Lieber b,

auf Deinen lb. Brief kann ich nur des Nachts antworten. Ich halte mich an Deine Punkte. – IV scheidet aus. Du bist für c nicht verantwortlich. II desgleichen. Niemand hat das Recht, ungestraft Dir in Deinem Verh. zu Deiner Wirtschafterin etwas nachzusagen. Aus II und IV erwachsen also überhaupt keine Hemmungen eines Vorgehens. Du bist rührend, Dich so in alle möglichen faulen Anschuldigungen des Gegners hineinzudenken.

III (die Freundschaften) Verzeih, ich finde mich in Deinem Sprachgebrauch nicht zurecht und bin darum nicht ganz sicher. Ich möchte das, was Du unterschiedslos erotisch nennst, in zwei Gruppen zerlegen: 1. das Adelphische, 2. das Erotische. Erotisch nenne ich ausschließlich den Willen zum Liebesspiel. Ein Verhältnis, das durch (a) Bejahung oder (b) Überwindung dieses Willens zum Liebesspiel nur mit bedingt ist, ist ein Verhältnis mit erotischem Einschlag. Adelphisch nenne ich jenes Sichneigen von Seele zu Seele, das ein unaussprechliches Moment in sich hat und ohne das es ein Verstehen nicht gibt. Es ist die Aufgabe des reifen Mannes, seine Verhältnisse zu Frauen als Seelsorger oder Freund im Element des Adelphischen zu halten. Die Frau muß wissen, dass die Verwischung der reinen klaren Grenze zwischen erotisch und adelphisch auf Ablehnung, besser auf Nichtverstehen stoßen würde. Hat sie das (falls sie es von sich selbst nicht so wollte) begriffen, so ist sie selbst am fröhlichsten in der so geschaffenen reinen Luft, und man hat eine Möglichkeit zur inneren Gemeinschaft, wie sonst nun und nimmer. Ein starker fester Wille (auch gegen sich selbst) gehört zu der Führung einer solchen Freundschaft. Aber die Güte des Mannes gegen die Frau gebiert solchen Willen leicht. Ist ein Stranden in die potentielle Erotik eingetreten, so kann eine Überwindung derselben (aber eine Überwindung, die ans Ende kommt, und keine, die als immer neuer Akt erst vollzogen werden muß und das Verhältnis dauernd mit erotischen Momenten belädt) wieder alles in eine rechte Bahn bringen. Das ist mein persönlicher Standpunkt. – Ich fasse dies so auf, dass Du wesentlich das Adelphische meinst, vielleicht auch noch dazu, das in irgendei. Sinne unter die verneinende Überwindung gestellte Erotische. In diesem Falle würde auch III als für Deine Verleumdung völlig belanglos ausscheiden. Solltest Du es aber anders gemeint haben, so müsstest Du meiner Auffassung Deiner Worte widersprechen (hättest Du Anlaß zum Widerspruch, so würde ich a) die Verleumdung | noch immer für eine schmutzige Unterstellung halten, aber b) davon abraten, etwas gegen sie zu tun, weil ein ganz klarer und offen vertretbarer Tatbestand nicht vorliegt bei Dir, und gleichzeitig c) Dich herzlich bitten, diesen klaren Tatbestand zu schaffen durch Änderung Deiner Frauenbehandlung.)

Nun I. Es ist das Schwerste. Es ist aber vielleicht nicht nötig, dass wir uns über Deine Maximen verständigen. Der gegenwärtige Tatbestand ist einfach: Du hast Dich von Deiner d getrennt, wirst Dich scheiden, und hast mit e eine geistige Arbeitsgemeinschaft. Dieser Tatbestand hindert in nichts, dass Du Dich zur Wehr setzest. Er ist auch vor dem f jederzeit vertretbar, sofern Du klar stellst, dass Du die Arbeit für gemeinsame Ziele für die Dir wichtige relig.soz. Sache, nicht hättest leiden lassen dürfen durch einen Bruch mit g. Das wäre männlich-sachlich gedacht und ist m. E. ethisch zu rechtfertigen. So würde auch aus I kein Hindernis erwachsen. – Dagegen bin ich unbedingt in Sorge wegen der Zukunftsabsichten, in h neuer, aus den Trümmern von Deiner getrennten Familie zu verkehren und mit Deiner bisherigen i Gemeinschaft zu halten. Das ist gegen Deine j falsch gehandelt. Du tust ihr den größten Dienst, wenn Du ihr begreiflich machst, dass Du sie nicht brauchst. Außerdem ist dies m.E. die Bedingung für Dein Verbleiben in der theol. Fakultät. Ein Theologe, der mit seiner geschiedenen Frau eine Freundschaft fortsetzt und in deren Familie verkehrt, ist eine einfache Undenkbarkeit. Es besteht hier ein Entweder-Oder.

k, wichtiger als alle möglichen Menschen ist einem Manne die Sache, der er seine Kräfte gibt. Um dieser Wichtigkeit der Sache willen wirst Du mit l weiter in Freundschaft zusammen wirken. Um dieser Wichtigkeit der Sache willen aber darfst Du keine in eigentlichem Sinn aktuell-erotische Freundschaft mit Frauen haben, und darfst Du die Gemeinschaft mit m nicht in irgendeiner Form fortschleppen. Dein reiner Schild vor aller Welt ist wichtiger als ein paar Frauen. Ich habe Dir den Umfang der Gerüchte im vorigen Briefe noch nicht eindringlich genug gemacht. Du bist bald soweit, dass Du ihrer nicht mehr Herr werden kannst. Jetzt geht es noch, denn noch ist im Verhältnis zu Deiner n nichts geschehen, was nicht dem reinsten | und feinsten Menschen jeden Tag geschehen könnte.

Doch es sei. Ich glaube Deinen Zukunftsabsichten nicht, bis ich die Tat sehe. Im bezug auf die Gegenwart bin ich – vorausgesetzt dass Du zu III keine Erklärungen gibst, die mir das unmöglich machen – bereit, mit dem ganzen Gewicht meines Namens (und das ist jetzt durch das daran gehängte Ordinariat für jede Fakultät ins Gewicht fallend, die Menschen sind darin kindisch) Dir zu helfen, dass der betr. o, den ich mit Zeugen überführen kann (es liegt selten günstig), seine Verleumdung mit Entschuldigung zurückzunehmen gezwungen wird und das Gerücht ein Ende findet. Was dann wird, wenn die Scheidung komplett ist, wollen wir abwarten. Es kann noch viel derweil geschehen, und Du kannst – wie Du theoretisch nicht wirst abstreiten – Deinen Sinn noch ändern bis dahin. Der p hat auch nicht von Deiner Zukunft, sondern von Deiner Vergangenheit und Gegenwart gesprochen.

q, es geht nicht nur um ein gut Gewissen. Es geht um den Namen. Und ohne den Namen kann kein Mensch wirken, zumal nicht für eine so exponierte Sache wie Deine rel.-soz. Ich kenne 1000, die sich mit Jauchzen auf einen fehlenden Rel.-Sozialen stürzen würden: da seht Ihr's, was dabei herauskommt. Wer eine bürgerliche Ordnung stürzen will, muß für seine Person auch den bürgerlichen Anforderungen genügen. Sonst glaubt man ihm seinen Eifer für die Sache nicht.

Die italienischen Waldenser nahmen keinen übertretenden katholischen Priester auf, der sich nicht verpflichtet, sein Zölibat noch, ich glaube, drei Jahre fortzusetzen. Mit Recht. Es war gut, dass r erst 8 Jahre nach dem Beginn des Streits und 4 Jahre, nachdem er die Gelübde für ungültig erklärt hatte, in die Ehe trat. Ein s, der Nov. 1521 geheiratet hätte, hätte die Reformation ruiniert. Denk also über Ehe und Freundschaft, was Du willst. Wenn Du nicht auch den leisesten Schein meidest, als handeltest Du anders, als es die bish. Moral vorschreibt, bist Du zum Reformer und Finder neuer Formen verdorben. Jeder würde in Deinem Schwert nur ein für die eigene Person gezücktes Messerchen sehen.

In Liebe Dein t.

Fußnoten, Anmerkungen

Register

aBonn
bTillich, Paul
cMennicke, Carl August
dTillich, Margarete
eWegener, Carl Richard
f???, ???
gWegener, Carl Richard
hWegener, Carl Richard
iTillich, Margarete
jTillich, Margarete
kTillich, Paul
lWegener, Carl Richard
mTillich, Margarete
nTillich, Margarete
o???, ???
p???, ???
qTillich, Paul
rLuther, Martin
sLuther, Martin
tHirsch, Emanuel

Überlieferung

Signatur
USA, Cambridge, MA, Harvard University, Harvard Divinity School Library, Tillich, Paul, 1886-1965. Papers, 1894-1974, bMS 649/152
Typ

Brief, eigenhändig

Postweg
Bonn - unbekannt
voriger Brief in der Korrespondenz
Brief von Emanuel Hirsch an Paul Tillich vom 11. Juni 1921
nächster Brief in der Korrespondenz
Brief von Emanuel Hirsch an Paul Tillich vom 21. Juni 1921

Entitäten

Personen

Orte

Zitiervorschlag

Brief von Emanuel Hirsch an Paul Tillich vom 14. Juni 1921, in: Paul Tillich, Korrespondenz. Digitale Edition, hg. von Christian Danz und Friedrich Wilhelm Graf. https://tillich-briefe.acdh.oeaw.ac.at/L00713.html, Zugriff am ????.

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