Der editierte Text

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a Humboldtstr. 48, d. 11. 6. 21
Lieber b,

ich schreibe heut einen Brief an Dich, der mit peinlichen, jedenfalls wunden Dingen zusammenhängt und an einen Schleier rührt, den Du bisher über Dein persönliches Kleid mir gegenüber gebreitet hast. Du wirst verstehen, dass ich es tue. Es handelt sich darum, dass ein Deine Ehre abschneidendes, in Universitätskreisen verbreitetes Gerücht abgeschnitten werde. Ich wollte zuerst unmittelbar an die Quelle des Gerüchts gehen, aber es schien mir besser, erst mit Dir zu beraten.

Das Gerücht lautet so: „Die Heiligkeit der Ehe ist in den Kreisen der c RS1 nicht unangetastet geblieben, weder theoretisch noch praktisch. Z. B. huldigt der RS d einem Weiberkommunismus.“ Es sind nicht beliebige Leute, und gleichgültige, sondern solche, denen man glaubt, die solches sagen. Es sind auch noch andere außer Dir genannt, die ich aber nicht weiß.

Nun weiß ich natürlich, dass diese niederträchtige Verleumdung – wie alle Verleumdungen – einen Ausgangspunkt in der Wirklichkeit hat, den die verdreht hat. Es ist Dein Eheunglück, das diese Räuber sich zu nutze machen. Damit, dass Scheidung von Dir eingeleitet ist, ist für alle Welt aber erwiesen, dass es sich um eine böswillige Verdrehung und Verdächtigung Deiner Gesinnung handelt.

Aber ich muß Dir das Gerücht mitteilen, um zu wissen, wie man es am besten tot tritt. Den Umfang der Verbreitung ahne ich nicht. Einen Mann aber kann ich als Urheber bestimmt fassen. Es ist also von diesem Mann zu verlangen, dass er in aller Form sein Wort (dessen Sinn ich oben mit möglichster | Treue wieder gegeben habe) mit Entschuldigung zurücknimmt. Gleichzeitig muß er sich verpflichten, diese Zurücknahme allen denen mitzuteilen, denen er das böse Wort gesagt hat. Weigert er sich dessen, so wendest Du Dich um Schutz an den Dekan Deiner Fakultät.

Aber, ehe ich nun dies Verfahren einleite (ich will für Dich mit dem Mann gern die Briefe tauschen als Dein Sekundant), muß ich wissen, was ich ihm antworten soll, wenn er auf Deine Ehe anspielt. Ich dächte etwa so: „dass Sie auf das Eheunglück, das Coll. e zur Einreichung einer Scheidungsklage bewogen hat, überhaupt aufgeilten, ist mir erstaunlich; geschweige dass Sie sich erlauben, solche Schlüsse darauf zu bauen.“ –

Ich halte es aber auch für einen durchaus gangbaren Weg, dass Du direkt zu Deinem Dekan gehst, ihm das Gerücht und als Ort allgemein: „in Universitätskreisen“ mitteilst, und bittest, unter bloßer Andeutung dessen, woraus diese Verdächtigung erwachsen ist, diesem Gerücht mit aller Kraft entgegenzutreten, vielleicht in einer Fakultätssitzung diese Bitte auch an die übrigen Professoren der Fakultät weiter zu geben. Aber klüger ist es vielleicht, Du lässt mich den Mann, den man bestimmt fassen kann, stellen. (Es ist, dass ein Missverständnis nicht entsteht, kein f und auch kein g.) Er wird dafür sorgen, dass es sich schnell verbreitet, dass Du an diesem Punkt nicht mit Dir spaßen lässt.

Von einer Beleidigungsklage bei Gericht würde ich Dir raten abzusehen. Es ist besser, es unter der Hand zu | erledigen. –

Es tut mir leid, dass ich Dir in Deine übrige Pein hinein nun auch noch diesen Ärger machen muß. Aber ich hielt es doch nicht für richtig, die Sache ohne Dein Vorwissen zu erledigen. Außerdem haben die h, die es mir wiedererzählten (Nichtdozenten), mich gebeten, ehe ich an ihre Quelle mit Protest ginge, erst mit Dir zu beraten. Sie glauben so fest an die Verleumdung, dass mein Wort nicht genügte, um sie still zu machen. Sie wollen erst an die Verkehrtheit glauben, wenn der Urheber zurückgenommen hat oder Du ihm das „Verleumder“ zuzuschleudern „wagst“. –

Ich gehe nun zum 1.10. nach i Neulich sprach ich lange mit j über Dich. k hat auf alle Fälle Interesse an Dir. Wenn Du ihm Dein Buch „l“ zuschickst, so wird es wohl lohnen.
Wann kommt es heraus?

Von Herzen Dich grüßend, auch von m,
Dein getreuer
n.

Fußnoten, Anmerkungen

1Religiösen Sozialisten.

Register

aBonn
bTillich, Paul
cBerlin
dTillich, Paul
eTillich, Paul
fBonn
gGöttingen
hBonn
iGöttingen
jHeitmüller, Wilhelm
kHeitmüller, Wilhelm
mHirsch, Rose
nHirsch, Emanuel

Überlieferung

Signatur
USA, Cambridge, MA, Harvard University, Harvard Divinity School Library, Tillich, Paul, 1886-1965. Papers, 1894-1974, bMS 649/152
Typ

Brief, eigenhändig

Postweg
Bonn - unbekannt
voriger Brief in der Korrespondenz
Brief von Emanuel Hirsch an Paul Tillich vom 19. April 1921
nächster Brief in der Korrespondenz
Brief von Emanuel Hirsch an Paul Tillich vom 14. Juni 1921

Entitäten

Personen

Orte

Zitiervorschlag

Brief von Emanuel Hirsch an Paul Tillich vom 11. Juni 1921, in: Paul Tillich, Korrespondenz. Digitale Edition, hg. von Christian Danz und Friedrich Wilhelm Graf. https://tillich-briefe.acdh.oeaw.ac.at/L00712.html, Zugriff am ????.

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