Der editierte Text

|
a Humboldtstr. 48, d. 14 5 19
Lieber b,

ich danke Dir für Deinen lieben Brief. Auch ich bin hier einsam und sehne mich nach Aussprache. Wie gern wäre ich mit Dir zusammen. Es tat mir immer gut. Nun muss ich Dir brieflich zu antworten versuchen. Ich will nicht mit Dir über den Krieg debattieren. Was ich zu sagen habe, steht in meinen Dir bekannten Aufsätzen „Staat und Krieg“1 und „Pazifismus“2. Wir werden uns hierüber wohl nicht einig werden. Vergiss nur bitte dreierlei nicht: 1. Auch ich, wie jeder der wie c über diese Dinge denkt, verurteile |:auch:| bei Nationen den „Egoismus“, d. h. den Willen, sich auf Kosten andrer |:Nationen:| eine bequeme und reiche Existenz zu schaffen, und das von der Regel der Gerechtigkeit abweichende Begehren. Auch mir ist nur eins wahr und gross in letztem Sinne, die Liebe. Wir haben verschiedne Weisen, uns mit der „Welt“ zu stellen. Ich glaube, dass meine Art „{Nein}“ |:zu ihr,:| dem gegenteiligen Schein zum Trotz, radikaler ist als die Deine. Doch lassen wir's. Wichtig ist mir nur, dass in der letzten Gesinnung ein Unterschied nicht besteht: das Irdische, nicht das Ewige trennt uns in diesem Punkt. 2. Ich habe den Krieg stets sehr persönlich auf mein Gewissen genommen und gewusst, dass Gott mich als Glied eines kriegführenden Volks genau so ansieht wie einen, der im Nahkampf die Handgranate wirft. Ich habe auch stets den Mangel an unmittelb. sinnl. Eindrücken zu ersetzen gesucht durch Bilder und Berichte und bin vor dem Grausigen nicht ausgekniffen. Die Nervenerschütterung des unmitt. Erlebens fehlt mir. Ich weiss, wie sie mich ruiniert hätte. Aber ehrlich, ich glaube nicht, dass ich einen Deut anders dächte als jetzt.

Vergiss nicht – oder hast Du diese Erinnerung nötig, Du, der Denker? – dass Nerven auch falsche Propheten sein können. Was sie sagen, soll kontrolliert werden. Ja das tiefst verwundete menschliche Gefühl ist noch nicht immer ein Zeuge. Was verwundet es, das Leid oder die Sünde? Ich will damit Dein persönl. Bekenntnis nicht verunehren, ich will Dir nur den indiv. Charakter zum Bewusstsein bringen. 3. Und nun stelle ich Bekenntnis gegen Bekenntnis und bitte Dich, dass Du auch meins achtest: meine Toten haben mir den Krieg heilig gemacht. Lieber d, wenn ich an meinen Bruder e denke, so verlässt mich noch immer der Gleichmut. Und neben f stehn zwei sehr liebe Freunde. Aber sie alle drei halten schützend ihre Hand über die Kriegszeit und lassen es mich schmerzlich fühlen, wenn jemand den Krieg schändet. Die stille duldende Liebe, mit der g sein Leben hingab in Blut und Dreck und Tod, die war kein Irrtum. Und ein Ereignis, das solche hingebende Gesinnung hervorrief, das ist nicht böse an sich. Achte mein Erleben und schände meine Toten nicht, hörst Du. – – –

Zu Deinem „utopistischen Sozialismus“ (verzeih das Schlagwort) habe ich einige Bedenken, die vielleicht eine fruchtbare briefliche Unterhaltung einleiten können. Einmal: der Hass gegen die bisherige Weltordnung der Gewalt ist so gross bei Dir (oder wenigstens[,] die ähnlich denken wie Du), dass sie – diese Weltordnung zu brechen suchen mit Gewalt. Das unmittelbar Verneinte wird als Mittel bejaht. Ich komme über diesen Widerspruch nicht hinweg. Müsste nicht die Verwerfung der Gewalt das stille geduldige Sichabfinden mit den Machtverhältnissen zur Folge haben, müsste nicht die Predigt von Herz zu Herz das einzige Mittel sein, das man der falschen Weltordg. entgegenstellt? Deine Stellung zu Staat Obrigkeit (u. Eigentum?) gleicht überraschend der der Wiedertäufer der Reformationszeit. Unter diesen gabs nun zwei Richtungen, Schwertler (Typus: die von h) und Stäbler (v. Hirtenstab benannt, Typus: die Mennoniten). Nichtwahr, Du weisst, dass Du als ehrlicher Denker Stäbler sein musst? Nun überleg die Folgen: die Stäbler müssen die Weltordnung lassen, wie sie ist und bilden den kleinen Kreis der Stillen im Lande. i, ich glaube ganz ernsthaft, dass Du enden wirst als Verkünder einer kleinen mystischen Sonderkirche vornehmer, weltabgeschiedner Geister. Du hebst die Kirche in ihrer jetzigen Gestalt auf, aber nicht die Sondergemeinschaft. Die „Sekte der Hochkulturellen“. Verzeih, dass ich Dir schon jetzt, wo Du noch nicht soweit bist, erkläre: ich ziehe selbst die Landeskirche und das j Konsistorium diesem Gebilde vor. –

Der andre Einwand ist noch grundsätzlicher. Da es sich bei |:mir da:| um halbfertige Gedanken handelt, kann ich aber nur schwer den rechten Ausdruck finden. Hast Du schon einmal das Kulturproblem durchdacht auf die Notwendigkeit der „Führer“ hin? Es ist ja so simpel, dass ohne Führer die Menschheit verkommt, und dass Führer Macht, Herrenrecht, haben müssen. Gibst Du aber dies zu, so hast Du die Wurzeln der bisherigen bösen Weltordnung bejaht. Diese Weltordnung hatte darin ihre Stärke, dass sie |:für:| Führer u. für Macht Raum liess. k Kritik des Sozialismus enthält sehr tiefe Wahrheiten, die Du wohl beherzigen könntest. Und der „letzte Mensch“, jene schaurige und eindrucksvolle Vision l, ist das notwendige Ergebnis jedes, auch des utopischen Sozialismus. – Du wirst mich nicht mit einem Nietzscheaner verwechseln. Ich werfe m gern vor, dass er den Begriff des Aristokraten verdorben hat. Der wahre Aristokrat schliesst sich innerlich zusammen mit der Plebs, er will sie führen, er fühlt sich verantwortlich für sie. Es gibt nicht nur Sklavenaufstände in der Geschichte, sondern auch Fahnenflucht der Führer in die Selb[st]genügsamkeit eines Sonderdaseins. Die christl. Kirche, die alle als Brüder sich ansehn hiess und doch jeder grossen Persönlichkeit den Platz gab zu verantwortungsbewusstem Regiment, die hat das Problem der |:Ordnung:| menschlicher Gemeinschaft tiefer gelöst als n. –

Über das Religiöse will ich Dir in diesem Brief nichts schreiben. Ich glaube an Gott, und Gottesglaube bleibt mir der Herzpunkt jeder ernsthaften Frömmigkeit. Was ich an jeder Mystik, auch Deiner Mystik des paradox bejahten Unendlichen, vermisse, das ist die ernsthafte Beziehung auf das indiv. Leben. Nicht, dass Du sie nicht hättest, o, aber für Dich ist auch deine Mystik nur ein höchst unvollk. Ausdruck dessen[,] was Du eigentl. meinst. Aber Du kannst diese Ernsthaftigkeit nicht wecken mit Deiner Verkündg. Du wirst aesthetisch-genüsslich missbraucht werden, zu „Anregungen“. Wie leid tust Du mir darum, armer Junge. Sag den Leuten, dass sie nicht die Kultur verneinen und rechtfertigen sollen, sondern ihre eigne Seele, stell ihnen die individuellen Gewissensfragen, – sie werden Dir für Deine Anregungen dann schnellstens danken. Nicht was man an tiefsinnigen Problemen hat, sondern was das Leben und die Gesinnung beherrscht, das ist persönlich ernst. Darum halte ich noch immer, man soll den Leuten sagen, dass sie einen persönlichen Herrn haben; ich möchte nicht leben ohne Herrn, ohne Gott. Und ich glaube, p würde viel Qual aushalten müssen u. einen schlechten Mann an mir haben, wenn das nicht wäre in mir.

Hoffentlich verdient sich auch dieser Brief eine Antwort von Dir. Ich hab ihn meiner Arbeit abgestohlen, und vielleicht bin ichs Dir wert, dass Du mir, trotzdem Du auch Deinen Packen haben wirst und trotzdem ich sicher manches missverstanden habe an Dir und an diesem Brief, bald antwortest[.]

In Liebe
Dein q.

Fußnoten, Anmerkungen

1Konnte nicht ermittelt werden.
2Konnte nicht ermittelt werden.

Register

aBonn
bTillich, Paul
cLuther, Martin
dTillich, Paul
eHirsch, Hans S.
fHirsch, Hans S.
gHirsch, Hans S.
iTillich, Paul
jBerlin
kNietzsche, Friedrich
lZarathustra
mNietzsche, Friedrich
nNietzsche, Friedrich
oTillich, Paul
pHirsch, Rose
qHirsch, Emanuel

Überlieferung

Signatur
USA, Cambridge, MA, Harvard University, Harvard Divinity School Library, Tillich, Paul, 1886-1965. Papers, 1894-1974, bMS 649/152
Typ

Brief, eigenhändig

Postweg
Bonn Humboldtstr. 48 - unbekannt
voriger Brief in der Korrespondenz
Brief von Emanuel Hirsch an Paul Tillich vom 7. Juli 1918
nächster Brief in der Korrespondenz
Brief von Emanuel Hirsch an Paul Tillich vom 19. April 1921

Entitäten

Personen

Orte

Zitiervorschlag

Brief von Emanuel Hirsch an Paul Tillich vom 14. Mai 1919, in: Paul Tillich, Korrespondenz. Digitale Edition, hg. von Christian Danz und Friedrich Wilhelm Graf. https://tillich-briefe.acdh.oeaw.ac.at/L00608.html, Zugriff am ????.

Für Belege in der Wikipedia

{{Internetquelle |url=https://tillich-briefe.acdh.oeaw.ac.at/L00608.html |titel=Brief von Emanuel Hirsch an Paul Tillich vom 14. Mai 1919 |werk=Paul Tillich, Korrespondenz. Digitale Edition. |hrsg=Christian Danz, Friedrich Wilhelm Graf |sprache=de | datum=14.05.1919 |abruf=???? }}
L00608.pdf