Brief von Emanuel Hirsch an Paul Tillich vom 08. Oktober 1920

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Der editierte Text

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Bonn (Details anzeigen) Humboldtstr. 48
08.10.20.

Lieber Paul (Details anzeigen),

eben empfing ich Deinen Brief,1 der sich mit meinem Reisebrief an Frede (Details anzeigen) gekreuzt hat. Daß ich Dich in Berlin (Details anzeigen) nicht sah, tut mir bitter leid. Doch meinte Frede, den ich danach fragte, es lasse sich nicht einrichten.

Die Äußerung hat Holl (Details anzeigen)2 getan, aber natürl. nicht mit d. Absicht, daß Du sie erführest. Ich habe geantwortet, wie er es ein 2. x sagte: Du seiest der Mein[un]g, daß jeder Deine Überzeugungen kenne, da Du sie öffentlich sagtest. Die Kirche hätte ja die Möglichk[ei]t, Dich herauszuwerfen. Dann erzählte ich ihm unser gemeinsames Motto aus der Studentenzeit im Wingolf: „nicht austreten, s[on]d[ern] für die eigne Mein[un]g kämpfen um eventuell herausgesetzt [zu] werden.“ Er gab mir d[ie]sen Standpunkt als sittlich möglichen zu u. sagte dabei: „Ich will das anerkennen für den Sohn. Wenn die Sache aber so steht, so hat der Vater bei s[eine]m Standp. die verdammte Pflicht, den Antrag auf Entlass[un]g s[eine]s Sohns zu stellen. Wie der Mann, der ein kirchl. Scharfpolitiker sonst ist, sich d[ie]ser Pflicht entziehen kann, ist mir dann nicht verständlich.“ Darauf mußte ich schweigen, weil ich ihm |:innerlich:| recht gab. Dein Vater (Details anzeigen) hat mir ein Bekenntnis gezeigt, mit dem s. Partei in die Kirchenwahlen geht[.] Wer so denkt, darf nicht schweigen gegen d. eignen Sohn. Denn dies Bekenntnis hat mich deswegen in solche Sorge versetzt, weil es kirchenspaltendes Bekenntnis ist, und wir die Kircheneinh[ei]t wahren u retten müssen. Ich habs den Augenblick nicht so begriffen, sonst hätte ich's Deinem Vater auch gesagt: Das ist Dynamit. Du gibst also Deinem Vater freie Hand für seine kirchl. Kämpfe, und das ist auch etwas wert.

Viell. darf ich Dir noch – damit Du Holl verstehst – andeuten, daß Holl (Details anzeigen) seinen krit. Überzeugungen |:aus überzarter Gewissenhaftigkt:| auch Opfer, u. zwar in Existenzfragen, gebracht hat, und nicht ahnen konnte, wie gut das Ende sein würde.

Kannst Du das Twesten (Details anzeigen)-Stipendium3 nicht noch 1 x erhalten? So wie Du stehst, und Deinen Weg eingerichtet hast, mußt Du der Fakultät den Mut zutrauen, es Dir zu verweigern, und wenn sie den Mut nicht hat, es einfach nehmen.

Das Kähler (Details anzeigen)stipendium4 bekamst Du aufgrund Einverständnisses Lütgerts (Details anzeigen) mit meinem Schwiegervater (Details anzeigen).5 Ich selbst habe darauf gehalten, daß es mit keinem Irrtum über Deine öffentliche Einschätzung u. Stellung von m. Schwv. gegeben wurde. Er hätte Dir es wohl kaum – außer im Zus.hang mit einer allgem. Verkürzung – entzogen, solange Lütgert Dich hält. Nur kann ich nicht leugnen, daß er noch sehr begrenzt zu leben hat u sein mutmaßl. Nachfolger ganz andre Gesinnung hat als er. Unter dem wird es eine Parteikrippe.–

Ich schreibe ds. Brief in großer Müdigkeit. Die 16 Stunden Eisenbahn liegen hinter mir, und dann hab ich |:gerade:| vor der Abreise noch eine Enttäusch[un]g erlebt. Ich hoffte auf das Königsberger (Details anzeigen) Ordinariat, war| auch an aussichtsreichster Stelle vorgeschlagen. Nun hat das Ministerium es trotzdem dem Sohn (Details anzeigen) vom alten Seeberg (Details anzeigen)6 gegeben, obwohl er an liter. Leist[un]gen weit unter mir steht und erst an letzter Stelle der Liste stand.––

Welchen Weg Du gehen sollst, Paul (Details anzeigen), weiß ich nicht. Daß Du eine große geistige Kraft hast, davon bin ich überzeugt, nicht zuletzt hat mich Dein Entwurf f. Vandenhoeck es gelehrt, daß diese Kraft auch jetzt noch da ist. Den Weg, in einer theologielosen Zeit, [als] Prof. f. Relg.philos. berufen z werden, scheint mir nicht schlecht zu sein, – wenn er sich verwirklichen läßt.––

Ich muß jetzt meiner Laufbahn ein großes persönliches Opfer bringen, näml. als Hilfsarbeiter der Kommiss. f. Reform.gesch. eine zeitraubende Exzerptenarbeit zu einem großen Nachschlagewörterbuch übernehmen. Tue ichs nicht, so verderbe ich mir die Leute, auf die es bei den Berufungen der nächsten Jahre ankommt. Da ich aber doch nur begrenzte Augenkraft habe, so legt mich das sonst sehr weitgehend lahm.

Nun wirst Du bald das Buch (Details anzeigen) von mir erhalten, das ganz den Gegensatz atmen wird, in dem wir beide uns befinden. Ich bitte Dich, trotzdem zu lesen. Ich habe Deine „Theologie der Kultur“ so oft gelesen, daß ich sie v[on] Grund auf kenne, mit allen verborgenen Problemen u Unstimmigkeiten darin, und mir auch Gedanken über Deinen geistigen Stammbaum gemacht habe. Wir können jetzt kaum mehr tun, als möglichst viel überwindende Liebe in den Willen des gegenseitigen geistigen Sichverstehens zu legen. Und darum bitte ich Dich, indem ich Dir voraussage, daß ich Dich mit dem Buch wohl ärgern werde.

Ich fahnde jetzt nach Barth's Römerbrief. Sein „Christ in der Gesellschaft“ hat mir den Mann interessant gemacht.

Lieber Paul (Details anzeigen), ob wir einander wohl befruchten könnten, wenn wir am gleichen Orte wären? Jedenfalls denke ich Deiner mit herzlicher Liebe. Dies Jahr ist in Deinem Leben wohl das schwerste, und dem schrecklichen Halbjahr oder Dreivierteljahr gleich, das ich ab Juli 1919 hatte. Schließlich glaube ich fest daran, daß Dir ein Weg sich zeigen wird, der Dir eine Existenz verschafft und Dir eine Freiheit zur geistigen Arbeit läßt. Schreib bald von Deinem Ergehen.

Daß Dich irgendwer in d. Berliner Fakultät wegekeln will, ist nicht richtig. Daß man Dich liebt, kannst Du nicht verlangen.

Sehr, sehr herzl. Gruß {???} Frede in treuem Gedenken – Rosa

Ich bin im Umzug – hinterher schrb. ich Frede (Details anzeigen) u schicke 1 Bild v. Gisela (Details anzeigen),7 da dann noch etw. z. machen ist.


Fußnoten, Anmerkungen

1Nicht überliefert.
2Karl Holl (geb. 15. Mai 1866 in Tübingen (Details anzeigen); gest. 23. Mai 1926 in Berlin (Details anzeigen)); 1900 wurde Holl außerordentlicher Professor für Kirchen- und Dogmengeschichte an der Eberhard-Karls-Universität in Tübingen, ab 1906 lehrte er als zweiter Ordinarius für Kirchengeschichte an der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin. Hirsch (Details anzeigen) sah in Karl Holl seinen wichtigsten Lehrer. Umgekehrt schätzte Holl Emmanuel Hirsch als seinen bedeutendsten Schüler.
3August Twesten (geb. 11. April 1789 in Glückstadt (Details anzeigen); gest. 8. Januar 1876 in Berlin (Details anzeigen)), der Nachfolger Friedrich Schleiermachers (Details anzeigen) auf dem Berliner Lehrstuhl für Systematische Theologie. Twestens Witwe Catharina Amalia Margarete, geb. Behrens (Details anzeigen), hatte nach dem Tod ihres Mannes 1877 mit 30.000 Mark eine "Twesten-Stiftung" "zum Besten der Evangelischen Theologie und Kirche" gegründet.
4Martin Kähler (Details anzeigen) (geb. 6. Januar 1835 in Neuhausen bei Königsberg (Details anzeigen); gest. 7. September 1912 in Freudenstadt (Details anzeigen) im Schwarzwald), deutscher protestantischer Theologe, Mitglied des Hallenser (Details anzeigen) Wingolfsbundes und einer von Tillichs (Details anzeigen) akademischen Lehrern.
5Emanuel Hirschs (Details anzeigen) Schwiegervater war der Systematische Theologe Gustav Ecke (Details anzeigen) (geb. 8. Januar 1855 in Erfurt (Details anzeigen); gest. 9. November 1920 in Bonn (Details anzeigen)), der nach einem Ordinariat in Königsberg (Details anzeigen) seit 1903 als Ordinarius für Systematische und Praktische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn lehrte. Ecke, der Martin Kähler als seinen wichtigsten Lehrer verehrte, hatte drei Söhne und zwei Töchter. Seine Tochter Rosa Ecke (Details anzeigen) heiratete 1918 in Bonn Emanuel Hirsch.
6Erich Seeberg (Details anzeigen) (geb. 8. Oktober 1888 in Dorpat (Details anzeigen); gest. 26. Februar 1945 in Ahrenshoop (Details anzeigen), Vorpommern), der Sohn von Reinhold Seeberg (Details anzeigen), hatte sich 1914 in Greifswald habilitiert und wurde 1919 zum außerordentlichen Professor ernannt. Von 1920 bis 1924 lehrte er Kirchengeschichte in der Theologischen Fakultät der Königlichen Albertus-Universität zu Königsberg (Details anzeigen) in Preußen.
7Gisela Walker, Tochter von Alfred Fritz und Johanna Fritz. Sie war die Patentochter von Paul Tillich.

Register

aBonn
bTillich, Paul
cFritz, Alfred
dBerlin
eHoll, Karl
fTübingen
gBerlin
hHirsch, Emanuel
iTillich, Johannes Oskar
jHoll, Karl
kTwesten, August
lGlückstadt
mBerlin
nSchleiermacher, Friedrich Daniel Ernst
oTwesten (geb. Behrens), Catharina Amalia Margarete
pKähler, Martin
qKähler, Martin
rNeuhausen bei Königsberg
sNeuhausen bei Königsberg
tHalle (Saale)
uTillich, Paul
vLütgert, Wilhelm
wEcke, Gustav
xHirsch, Emanuel
yEcke, Gustav
zErfurt
aaBonn
abKaliningrad (Königsberg)
acHirsch (geb. Ecke), Rosa
adKaliningrad (Königsberg)
aeSeeberg, Erich
afSeeberg, Reinhold
agSeeberg, Erich
ahTartu (Dorpat)
aiAhrenshoop
ajSeeberg, Reinhold
akKaliningrad (Königsberg)
alTillich, Paul
amHirsch, Deutschlands Schicksal. Staat, Volk und Menschheit im Lichte einer ethische..., 1920
anTillich, Paul
aoHirsch, Emanuel
apFritz, Alfred
aqWalker, Gisela

Überlieferung

Signatur
USA, Cambridge, MA, Harvard, Harvard Divinity School Library, Tillich, Paul, 1886-1965. Papers, 1894-1974, bMS 649/152
Typ

Brief, eigenhändig

Postweg
unbekannt - unbekannt
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Brief von Emanuel Hirsch an Paul Tillich vom 14. Mai 1919
nächster Brief in der Korrespondenz
Brief von Emanuel Hirsch an Paul Tillich vom 19. April 1921

Entitäten

Personen

Orte

Literatur

Zitiervorschlag

Brief von Emanuel Hirsch an Paul Tillich vom 08. Oktober 1920, in: Paul Tillich, Korrespondenz. Digitale Edition, hg. von Christian Danz und Friedrich Wilhelm Graf. https://tillich-briefe.acdh.oeaw.ac.at/L00687.html, Zugriff am ????.

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