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den 01.10.1920

Liebe Hannah!

Vorläufig rechne ich „denn nun ja“ nicht mehr mit einem Brief von Dir. Ich bin Dir auch nicht böse und sorge mich auch nicht. Ich bin froh, daß mir M.arie L.uise erzählt hat, daß es Dir gut geht; ich bin froh, daß Du den herrlichen Sommer in Greiz verlebst; ich bin froh, daß 2 neue Bilder von Dir mich mit neuen Augen anschauen, ich bin froh, daß eines in der Welt ist, dem ich ganz zu eigen bin, ein Mensch, den ich vollkommen und unerschütterlich liebe, ein Ort, wo meine flatternde, sehnsüchtige Seele ausruhen kann. Ich habe diese Woche jeden Abend durch Dienstliches besetzt. Am Montag war Volkshochschule, 3 St.unden, dann wollte ich in den Klub, kehrte aber nach 2 Minuten wegen langer Weile wieder um, und endete, da ich noch nicht schlafen konnte, in einem Kabaret, nach langer Zeit wieder und zum ersten Mal allein: Eine dicke, wildgeschminkte Sängerin, die Unanständiges und Patriotisches durcheinander sang, eine sehr hübsche, z.um T.eil gute Tänzerin, ein „Sketsch“ in Monako (Wechselrede und Gesang von einem Mann und einer Frau); ich hatte gerade in Eckardt v. Sydows jetzt erschienenem Dekadenc-Buch gelesen und fühlte mich in diese Sphäre der „Negativität“ ein, was man allein viel besser kann. Übrigens kommt heute Abend eine Tänzerin aus Kissingen, die ca 8 Tage in Pension bei uns wohnen soll, von Hauptmann Pfeiffer empfohlen, eine kleine Nebeneinnahme. Ende des Monats kommt dann der eigentliche Mieter, der schon 350 M angezahlt hat. Im Übrigen habe ich für 1800 M Kriegsanleihebezahlt verkauft, und bin nun wieder in Ordnung. Toni geht es jetzt wesentlich besser. Sie ist mir doch für die Kreditgewinnung nach außen hin unentbehrlich – Gestern Abend war Sitzung des religiös-sozialen Kreises; ich hatte eine Unterhaltung mit Privatdozent Schmidt (von Oktober ab Professor in Gießen.) (E.manuel Hirsch ist ordentlicher Professor in Göttingen); er erzählte mir, daß ich in Heidelberg für eine systematische Professur vorgeschlagen werden sollte, daß aber die Gutachten sehr feindlich waren, und man infolge dessen Abstand genommen hat. Ich habe in der | Tat sehr viele Feinde und es ist nur möglich, daß ich mich mit Hilfe stärkster Leistungen durchsetze. Aber es hat mir doch Spaß gemacht, daß ich wenigstens schon bekannt bin. In Betracht kommt jetzt noch Marburg und Gießen. Was würdest Du zu Marburg sagen? Wäre es möglich? Ich tue natürlich nichts, was unser Zusammenkommen erschweren würde, und müßte ich auf alles verzichten. – Heut Abend ist wieder politisches Seminar. Ich habe die beiden letzten Male in der Diskussion großen Erfolg gehabt, und bin gespannt, was heute wird. Hoffentlich kriege ich im Winter einen Lehrauftrag fürdas Seminar die politische Hochschule, der eine ganze Menge Geld einbringt. Die Sache mit dem Universitäts-Lehrauftrag schwebt noch vollständig; ich habe an Professor Kestenberg, den Kunstreferenten geschrieben, der mit dem Universitätsreferenten sprechen soll; noch habe ich keine Antwort.

Über meiner Beziehung zu den Frauen waltet ein merkwürdig paradoxes Schicksal; ich suche auch in diesem Provisorium im Grunde eine Einheit; aber sie wird mir nicht zu Teil; die Vielheit aber bewegt sich in Wellental und Wellenberg zu mir hin und von mir weg; augenblicklich liegt eine starke Wegbewegung vor, teils äußerlich, teils innerlich begründet. Ich leide darunter, aber ich leide ebenso unter dem Entgegengesetzten! Ich brauchte eigentlich täglich erotische Schwingungen; wenn ich sie aber suche, so gibt es unendliche Unruhe. Eckhardt schreibt an einer Stelle, daß auch die Sinnlichkeit Vertiefung braucht; er hat so Recht, und das Wort hat mich geradezu betroffen. Aber ich weiß noch keinen Weg, weil ich auch in dieser Beziehung schlechterdings durch Dich gebunden bin. – Neulich habe ich M.arie L.uise überwunden, und sie war am nächsten Tag sehr glücklich. Sie glaubt, daß es für sie möglich ist, frei von mir zu bleiben; das wäre herrlich!

Ich danke Dir, daß ich an Dich schreiben darf; schon das hat mich stark und frei gemacht!

Paul.

Ist das Zeugs angekommen, und der Brief am vorigen Sonnabend? Ich fürchte, ich habe Gotha statt Gera geschrieben. Es stand soviel Wichtiges drin. Schillbach soll sofort in Gotha anfragen und nach Gera oder Greiz nachschicken lassen.

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    • Eckart von Sydow, Die Kultur der Dekadenz. Dresden: Sibyllen-Verlag, 1921.