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den 01.06.1921

Meine geliebte Hannah!

Aus Deinem Brief wehte mir so tief und heiß Deine Liebe entgegen, daß ich wieder überrascht war, wie gleichartig unsere Seelen sich bewegen: Wie nach dem Sturm die heilige gepriesene Meeresstille sich in uns verbreitete und mit ihr das verdoppelte Gefühl unlöslicher Einheit! – In mir war ein hoher Rausch in diesen Tagen und – Nächten: der Geist Platos wurde über mich mächtig, da ich zum ersten Male mit Reife und Wissen seine Dialoge las; es war so übermächtig, daß ich taumelte, daß ich nur wenig Schlaf brauchte, und das Wunder dieses Geistes mein ganzes Wesen erfüllte. Und so fand ich dann auch gestern in der ersten Stunde des Kollegs Worte, die nur mühsam sich mir losrangen, da die Weihe des Gegenstandes mich zittern ließ, in denen aber Du aus mir sprachst; denn ich redete vom Eros. Ja, Hannah, wer könnte wohl jetzt an der Universität über den Eros reden außer dem, der Dich liebt, und in Dir die Stufen von der Schönheit des Leibes, über die Schönheit des Ethos, zur Schönheit der ewigen Idee | in Dir vereinigt schauen und lieben darf! Es ist mir fast ein Schmerz, daß Du diese Tage, die Deine Tage in besonderem Sinne waren, nicht bei mir sein konntest! – Ich las die ganzen Stellen im Phädros über den heiligen Wahnsinn vor, den Plato die Schöpferkraft alles Großen nennt. Und ich dachte an unseren Wahnsinn; und doch ist das Höchste, was Plato ihm zuschreibt, die Schöpfung der Form. Das war das Große an diesen Tagen, daß ich die Form erlebte in ihrer Heiligkeit, die Form die der Wahnsinn schafft, wie Platos „Idee“, die Form, die durchglüht ist vom Eros. Sollte sie nicht, Hannah, unsere Sehnsucht sein? Sollte sie nur Sehnsucht sein, in ewiger Unerreichbarkeit? – Und eins noch sagte ich: daß Plato Dichter sein mußte, denn ihm ist das Wissen Leben; das Leben aber kann unzerstört sein Wort nur finden im – Gedicht. Als ich dieses sagte, lächelte Deine Schwester und ich mit ihr: Wir dachten an Dich! – Aber auch ich muß Dichter werden, wenn das Leben aus mir sprechen soll!

Dein Paul.
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    Personen:

    Literatur:

    • Platon, Phaidros