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Halle8. Juli 1915.

Lieber Herr Tillich!

Endlich kann ich Ihnen definitive Antwort geben. Wir sind alle und speciel ich so in Anspruch genommen, dass die Geschäfte nur langsam gehen.

Ich teile Ihnen also das Urteil der Fakultät mit.

Gegen die vorige Arbeit wendeten die Kollegen ein, dass sie zu ausschliesslich nur philosophisch wäre. Es wurde Ihnen gesagt, dass Sie diesmal eine Theologische Arbeit vorlegen sollten.

Auch gegen diese Arbeit haben die Referenten eingewendet, dass sie besonders in ihrem ersten Kapitel viel zu sehr philosophisch wäre. Sie haben dabei davon abgesehen, ihren abweichenden theologischen Standpunkt geltend zu machen und die Verhandlung hat sich in den Grenzen gehalten, dass Ihr theologischer Standpunkt und auch Ihre Methode für die Beurteilung der Arbeit nicht massgebend sein dürfte.

Allein besonders der Korreferent hat mit Recht geltend gemacht, dass die Arbeit auch nicht wirklich historisch sei.1] Sie entspricht nicht dem, was der Titel sagt: sie ist nicht eine Entwicklung des Begriffs des Übernatürlichen im älteren Supranaturalismus. Wie dieser Begriff entstanden ist, wie er begründet ist, wie er sich zu dem entsprechenden Begriff des Supranaturalismus verhält, und wie zur Orthodoxie, dies alles wird garnicht berührt. Der Begriff wird nicht einmal für sich dargestellt. Am Eigentümlichsten wirkt dies in den christologischen Partieen. Die Arbeit ist nicht historisch, sondern rein logisch, rein dialektisch. Und zwar geht sie von den Voraussetzungen der| Identitätsphilosophie wie von einer selbstverständlichen Sache aus. Von der Dialektik aus, die mit ihr gegeben ist, wird der Supranaturalismus geprüft und bekommt selbstverständlich immer Unrecht.

Sie haben uns die Sache also nicht leicht gemacht. Wir unsrerseits möchten Ihnen die Sache aber nicht erschweren. Wir haben alle das Interesse, Ihnen besonders jetzt die Vorarbeit für Ihre Habilitation nicht unnötig schwer zu machen. So habe ich denn als dritter Referent, eine Fakultätssitzung abgewartet und in ihr referiert und wir haben demgemäss beschlossen. Unsere einstimmige Meinung war die, dass die Arbeit, so wie sie ist, unter diesem Titel nicht in die Welt gehen kann, denn sie ist eben keine historische Darstellung des Begriffes beim Supranaturalismus nicht einmal eine systematische. Die Darstellung muss aber ihrem Namen entsprechen.

Will man nun genau sagen, was Ihre Arbeit eigentlich bringt, so läßt sich das nur in den Titel fassen:
Der Begriff des Uebernatürlichen im älteren Supranaturalismus beurteilt vom Standpunkt der Schellingschen Identitätsphilosophie aus.2]
Das ist der wirkliche Inhalt der Arbeit. Sie ist rein formal logisch dialektisch, lediglich die Kritik eines Begriffes.

Nun will die Fakultät damit einverstanden sein, dass Sie die Arbeit unter diesem Titel drucken lassen. Ganz günstig für Sie ist eine solche Proklamation eines bestimmten Standpunktes nicht und Sie könnten durch ein Vorwort sich über diesen Standpunkt aussprechen. Allein es lässt sich nun einmal, so wie Sie die Arbeit angelegt haben, nicht ändern.

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Die Hauptsache ist ja auch jetzt für Sie, dass Sie sich habilitieren können. Dies möchten wir in Ihrem Interesse nicht verzögern. Eine Umarbeitung zu einer wirklich historischen Arbeit ist nicht mit kleinen Aenderungen gemacht. Die ganze Arbeit müsste anders angelegt sein und ich fürchte nicht nur, dass dazu Zeit und Arbeitsgelegenheit jetzt bei Ihnen nicht ausreicht sondern auch, dass Sie das wirklich nicht wollen und können. Sie wollen eben die Ueberlegenheit der Schellingschen Dialektik über den Supranaturalismus darstellen. Das wollen wir Ihnen nicht einschränken. Wir nehmen also die Arbeit so an, wie sie ist unter der angegebenen Titeländerung, die durch ein Vorwort begründet werden müsste.

Sie bekommen die Arbeit am Anfang des August. Das ist in keineme Falle zu spät. Denn es ist ja so gut wie sicher, dass wir im nächsten Semester noch nicht wieder in geordneten Verhältnissen werden arbeiten können. Bis zum Anfang des Semesters kann die Arbeit aber fertig sein.

Es hat uns gefreut, Ihre Frau Gemahlin bei uns gesehen zu haben. Sie wird Ihnen von uns erzählt haben. Alles ist Krieg bis in die Themata der Seminare hinein. Ich lasse Kriegsethik behandeln: Kants ewigen Frieden, Fichtes wahrhaftigen Krieg, Hegel, Clausewitz, Treitschke u.s.w. Sie leben in der Wirklichkeit des Krieges und das wird noch lehrreicher sein. Aus Ihrem letzten Briefe ersehe ich, dass Sie nicht übermässig zu thun haben. Oder wechselt Ihre Stellung? Uebrigens bedarf es eines besondern Antrages an die Fakultät nicht mehr.

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Ich muss schliessen, weil ich noch viel Geschäftliches zu thun habe.

Mit bestem Gruss
Ihr

1) Das Übern. im älteren Subran., dargestellt und kritisiert vom Prinzip der Identität,
2) Die Dialektik des Subpran., dargestellt an der älteren supran. Theologie
3) Die supran. Begriffsbildung und ihre dialektische Zersetzung durch das Identitätsprinzip, dargestellt an der älteren supran. Theologie.
1. Die supranaturalistische Begriffsbildung, ihre logischen Probleme und das Prinzip der Identität, dargestellt an …
2. Die logischen Probleme des Supran., dargestellt an …
3. Der Begriff des Übernatürlichen, sein logischer Charakter und das Prinzip der Identität, dargestellt an …

3]
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    Personen:

    Orte:

    Literatur:

    • Tillich, Paul, Mystik und Schuldbewußtsein in Schellings philosophischer Entwicklung, Gütersloh 1912. 
    • Tillich, Paul, Der Begriff des übernatürlichen, sein dialektischer Charakter und das Prinzip der Identität, dargestellt an der supranaturalistischen Theologie vor Schleiermacher, Königsberg 1915 
    • Kant, Immanuel, Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, Königsberg 1795. 
    • Fichte, Johann Gottlieb, Über den Begriff des wahrhaften Krieges in Bezug auf den Krieg im Jahre 1813, Tübingen 1815. 
    • Sturm, Erdmann, An der engen Pforte der historischen Methode vorbei... Paul Tillichs Habilitation in Halle (1916) und seine Umhabilitierungen nach Berlin (1919) und Marburg (1924), in: International Yearbook for Tillich Research, 10(1), 273-332.