Brief von Eckhart von Sydow an Paul Tillich vom 3. September 1911

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Der editierte Text

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Jena (Details anzeigen) {Berghofsweg} 5., d. 19II/9/3

Lieber Paulus (Details anzeigen)!

Dein Brief kommt mir sehr gelegen, da ich mir seit einigen Wochen täglich vornahm: morgen schreibst du an Paul (Details anzeigen)! Leider ging es mir dabei, wie dem Kunden jenes Friseurs, der an seiner Lade die riesige Inschrift hatte: „Morgen werden alle Kunden gratis rasiert“ – der Kunde wurde immer auf den folgenden Tag vertröstet – Aber: was die Vorträge anlangt, so bin ich nicht abgeneigt, wenn es notwendig sein sollte: zwei verschiedene Vorträge zu halten. Wie waren die beiden Themata: 1) Metaphysik und Psychologie der Dekadenz, 2) Philosophische Grundzüge der Erziehungslehren? – Über beides will {¿¿¿} schreiben. Mit Naturphilosophie will ich mich vorläufig nicht befassen. – Ich muss allerdings gestehen, dass ich dem Erfolg der Abende nach wie vor skeptisch gegenüberstehe. Es scheint mir prinzipiell unmöglich, ein unangreifbares System der Wertungen aufzustellen. Materialismus etc. sind natürlich dumm, d.h. weniger raffiniert, aber prinzipiell nicht angreifbarer als der Idealismus. Die Logifizierung hat immer irgendwo eine Lücke und Achilles-Ferse, die die immanente Kritik noch bei allen Systemen, die ich kenne, {¿¿¿} hat. Was uns allein not tut, ist nicht eine weitere Verschärfung und Zuspitzung eines schon so wie so reichlich übertriebenen Intellektualismus, sondern eine neue Prophetie! – Populäre Philosophie – mir graut bei dieser Contradictio in adjekto! Nein! Nein! Das geht nicht!

Wir können die Geschichte ja noch bereden, wenn ich nach Butterfass komme. Bis Anfang September bleibe ich in Südbayern und komme dann nach Berlin (Details anzeigen). Von dort aus nach Butterfelde (Details anzeigen) mit größtem Vergnügen. Ich treffe Dich doch dann noch dort? Hier ist nichts Rechtes los. Neulich sprach ich in der „Philos. Gesellschaft“ über die „Idee des Ideal-Reiches bei Fichte (Details anzeigen), im Zusammenhang seiner geschichtsphilosophischen Entwicklung.“ Ich bin jetzt dabei, das Thema weiterauszuarbeiten. „Der Gedanke des Ideal Reichs, im Zusammenhange der geschichtsphilosophischen Entwicklung von Kant (Details anzeigen) bis Marx (Details anzeigen) (Details anzeigen)“. – Kant (Details anzeigen), Fichte (Details anzeigen), Schelling (Details anzeigen), Hegel (Details anzeigen) habe ich schon bearbeitet. Marx (Details anzeigen) und die Dei Minores wie Goethe (Details anzeigen), Schlegel (Details anzeigen) etc. kommen jetzt dran. Ich will dann noch einmal einen Querschnitt durch die Epoche machen. „Die Begriffsbildung von Kant (Details anzeigen) bis Hegel (Details anzeigen)“ Worauf es mir ankommt, ist u. a. der Nachweis, dass das ganze Gerede vom „Zusammenbruch des Idealismus“ Unsinn ist, dass der Historismus etc. konsequente Schulsysteme Hegels (Details anzeigen) sind. – Ich weiß noch nicht, ob ich das „Ideal-Reich (Details anzeigen)“ als Habilitations-Arbeit verwende (wozu es sich seines historischen Charakter gut eignen würde!) oder so veröffentlichen. Habe ich es fertig, in c.a. 14 Tagen! So stürze ich mich auf die Dekadenz (Details anzeigen) s.o.! – Woran arbeitest Du? Georgy (Details anzeigen) ist ja nun doch nicht nach B. (Details anzeigen) gekommen? Ich hatte vor ein paar Tagen einen Brief von ihr aus der Schweiz (Details anzeigen). – Wie denkst Du über Deinen Berliner Winler-Aufenthalt? Ich bin nachgerade entschlossen, wieder mal {¿¿¿} zu wohnen um mich nicht zu im-mobilisieren. Meine Innendekoration wird sich wohl auf eine Schreibmaschine beschränken - - Was macht Imm. Hirsch (Details anzeigen)? Wo wohnt er? Ich will noch mal des Fichte (Details anzeigen) wegen an ihn schreiben. Ich muss {¿¿¿} F. (Details anzeigen) in den Mittelpunkt meiner Arbeit stellen. Um mit ihm zugleich den Ideal-Reich-Gedanken gründlichst absägen zu können.

Wie geht es Johanna (Details anzeigen) und Fritz (Details anzeigen)? Danke doch bitte Johanna (Details anzeigen) für Ihre letzte Karte.

Vorläufig will ich mal halt machen. Ich denke Du antwortest bald – dann fahre ich fort.

– Eben war in Jene (Details anzeigen) [sic!] eine fabelhaft schöne Ausstellung von Hodler (Details anzeigen) und Hubers (Details anzeigen).

- Ich habe einigermassen Angst und {¿¿¿} vor Berlin (Details anzeigen).

Tausend herzliche Grüße an Alle Butterfelder (Details anzeigen)!

Es grüsst Dich Dein treuer Eckhart (Details anzeigen)


Fußnoten, Anmerkungen

Register

aJena
bTillich, Paul
cTillich, Paul
dBerlin
eButterfelde
fFichte, Johann Gottlieb
hKant, Immanuel
iMarx, Karl
jKant, Immanuel
kFichte, Johann Gottlieb
lSchelling, Friedrich Wilhelm Joseph
mHegel, Georg Wilhelm Friedrich
nMarx, Karl
oGoethe, Johann Wolfgang von
pSchlegel, August Wilhelm
qKant, Immanuel
rHegel, Georg Wilhelm Friedrich
sHegel, Georg Wilhelm Friedrich
vFrey-Sollberger, Georgy
wBerlin
xSchweiz
yHirsch, Emanuel
zFichte, Johann Gottlieb
aaFichte, Johann Gottlieb
abFritz, Johanna
acFritz, Alfred
adFritz, Johanna
aeJena
afHodler, Ferdinand
agHuber, Hermann
ahBerlin
aiButterfelde
ajSydow, Eckart von

Überlieferung

Signatur
USA, Cambridge, MA, Harvard University, Harvard Divinity School Library, Tillich, Paul, 1886-1965. Papers, 1894-1974., bMS 649/191(6)
Typ

Brief, eigenhändig

Postweg
Jena - unbekannt

Entitäten

Personen

Orte

Zitiervorschlag

Brief von Eckhart von Sydow an Paul Tillich vom 3. September 1911, in: Paul Tillich, Korrespondenz. Digitale Edition, hg. von Christian Danz und Friedrich Wilhelm Graf. https://tillich-briefe.acdh.oeaw.ac.at/L00370.html, Zugriff am ????.

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