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Halle / Saale 30.09.1911

Lieber Paul,

hiermit bekommst Du Deine Thesen zurück und ich will versuchen nachzuholen, was in Kassel versäumt wurde, ordentlich auf sie einzugehen. Ich habe das Gefühl, als hätte ich allen Grund, das zu tun und muss mich obendrein bei Dir entschuldigen, daß Du in Aussicht statt dieses Eingehens einer ziemlich schnellen und dabei sogar oft recht schroffen Ablehnung begegnet bist. Ich habe mich eingehend in Deine Gedanken vertieft, meine Ablehnung bleibt zwar dieselbe, aber ich hoffe Dich besser würdigen und fruchtbarer mit Dir debattieren zu können. Ich denke, wir setzen die Unterhaltung schriftlich fort. Ich habe von Deinen Thesen ein Exemplar und von diesem Brief eine Durchschrift, (deshalb der Bleistift!) wir können also ordentlich aufeinander eingehen.

1. Die zwischen uns bestehende Differenz! In Deinem letzten Brief hast Du sie im Ganzen richtig formuliert. Doch meine ich es nicht so, die Einheit Gottes mit der Menschheit (Welt) auf einen Einzelfall, die Person Jesu, zu beschränken. Ich stimme Dir darin zu, daß (die Person Jesu) die Menschheit, mit der Gott eins ist, nicht ein Individuum, sondern eine Vielheit ist. Ich definiere diese Vielheit als Gemeinschaft, deren Glieder durch den Anfänger der Gemeinschaft die Gotteinheit zu nicht aufhörendem Besitz erhalten (vergl. Joh. 4 14 b ) Du definierst diese Vielheit als eine unendliche Reihe, in der jedes Glied einen endlichen (aufhörenden) Anteil an der Einheit mit Gott hat. (Die Menschen gleichen den Fackelläufern, bei denen einer am anderen das Licht entzündet, so daß das Licht nicht aufhört zu leuchten, aber bei jedem verlischt es, wenn die Fackel sich verzehrt hat,) finitum non capax infiniti. Oder von einer anderen Seite. Wir reden beide von einer Erlösertat Gottes. Dir fällt sie in die Innerlichkeit der Individuen, in ihr unmittelbares Verhältnis zu Gott, die geschichtlich-gemeinschaftlichen Beziehungen, in denen die Individuen stehen, bieten nichts mehr als die Auslösung für die Wirkung, mit der Gott sich mit den Individuen eint. Ich sehe nicht, wie die Individuen durch die Erlösung über ihre Einzelheit (im Verhältnis zueinander, nicht im Verhältnis zu Gott) hinauskommen. Mir gehören die geschichtlich-gemeinschaftlichen Beziehungen so sehr zu diesen, den Individuen, daß ich die Wirklichkeit der Individuen nicht abgesehen von ihnen, in der reinen Innerlichkeit, denken kann. In diese Beziehungen greift die Erlösungstat Gottes ein, durch sie vermittelt sie sich.

| Autonomie ist, Dir nur die, wo das Ich = ich ist, mir die Freiheit, in den geschichtlich-gemeinschaftlichen Beziehungen vorhanden ist, die die Liebe gibt. Dein Standpunkt erscheint mir eine Abstraktion, Deine Ausführungen oft formal und leer. Der meine wird Dir wohl als Verworrenheit erscheinen. Der zwischen uns bestehende Gegensatz reicht so tief, so sehr in die unmittelbar gewissen Grundsätze alles Denkens hinein, daß ich nicht daran denken kann, Dir etwas vorzudemonstrieren zu wollen, das Dich von der Richtigkeit meiner Anschauung überführt. Die Schätzung des Unmittelbaren, die ich habe, ist eben unmittelbar begründet. Hier steht jeder für sich. Aber trotzdem glaube ich, fruchtbar mit Dir debattieren zu können. Ich glaube, ich kann Dir zeigen: Die von mir vertretene Position fordert von Dir nicht die Preisgabe Deiner Grundsätze, nichts als Modifikationen, denen zuzustimmen nicht außerhalb logischer Möglichkeit liegt.

2. die Grundlagen, (These 81-91) Hier habe ich zunächst geltend zu machen: m.E. meines Erachtens sind erkenntnistheoretische und metaphysische Gedanken hier nicht sauber geschieden. Th. These 82-84, 86 sind erkenntnistheoretisch, Th. These 85 und 87 metaphysisch. Für mich bildet den Anfang der Wissenschaft nicht erkenntnistheoretische Sätze. Denn die Erkenntnis ist nur eine Betätigungsweise der Vernunft. Das sittliche Handeln und die Kunst gehören auch zum Leben der Vernunft. Den Anfang bilden die Sätze, in denen sich das Wesen der Vernunft ausspricht. Nach dem Vorbild der Wissenschaftslehre kenne ich deshalb 3 Grundsätze, nicht nur zwei, wie das in Th. These 84 (vergl. 85 und 86) dargestellt ist. Der erste handelt von der absoluten Selbstgewissheit der Vernunft (Einheit, der Wahrheit bei Dir), der zweite vom Dasein als dem unendlichen Prozess (fehlt bei Dir), der dritte von der Vernünftigkeit des Daseins, das in der Tat der Freiheit begründet ist (Identität von Subjekt und Objekt im Erkenntnisakt). Diese drei Grundsätze sind nicht ableitbar, sondern unmittelbar. Auch der zweite und dritte ist nicht aus dem ersten und zweiten ableitbar. Sie enthalten zwar Elemente, die dem ersten und zweiten entstammen, aber nicht nur solche. Den zweiten Grundsatz vermisse ich bei Dir. Er ist in Deinem zweiten Satz vorausgesetzt. Wie kommst Du sonst zu dem Objekt, das dem Subjekte entgegengesetzt ist, bis es in der Synthesis mit ihm eins wird. Der zweite Grundsatz redet vom Gegensatz überhaupt. Der Begriff des Prozesses ist nur im Gegensatz zur Selbstgewissheit der Vernunft denkbar. Deutlich ausgesprochen ist der Begriff des Gegensatzes | von Dir erst in Th. These 87. Da redest Du nun vom irrationalen Willen, d.h. das heißt vom Sündenfall. Der Gegensatz von Subjekt und Objekt ( Th. These 84) und der von Wesen und irrationalem Willen konkurrieren, da aus beiden die Mannigfaltigkeit abgeleitet wird, hier konkurrieren zugleich erkenntnistheoretische und metaphysische Formulierung des Gedankens xxxxx i.g. scheinen mir die metaphysischen Formulierungen unkritisch, nicht zur Evidenz gebracht. Hier scheint mir eine Dunkelheit bei Dir zu stecken. Sie hat zur Folge, daß Du die Einheit des Bewusstseins als Identität des Identischen (Ich = Ich) formulierst. Sie ist aber Einheit des Entgegengesetzten. Du nennst den Inhalt des Erkenntnisaktes die aktuelle Wahrheit. Da hast Du schon den Gegensatz von Aktualität und Potentialität vorausgesetzt; (ich rede statt von Aktualität und Potentialität von Dasein und Sein). Du siehst, deshalb, weil Du diesen Gegensatz nicht als solchen zur Klarheit bringst, nicht deutlich, daß nicht nur das Einzelne dialektisch (Einheit des Entgegengesetzten) ist (so sagst Du in These 89), sondern schon die Einheit des Bewusstseins. Ich kann auch so sagen: das Absolute ist die Potentialität der Wahrheit, ist Gott, nicht die aktuelle Wahrheit, nicht das Bewusstsein. Das Leben ist mehr als Bewusstsein. Der synthetische Karakter aller Gewissheit wird von Dir verdunkelt, da Du die analytische Formel (Ich = Ich) zum Prinzip der Gewissheit machst. Du redest viel von der Identität als dem Prinzip der Erkenntnis. Du verstehst darunter meist das Ich = Ich. Die Identität ist aber Einheit des Entgegengesetzten. Das ist das eigentlich Lebendige an ihr, Gott ist nicht Ich = Ich (Selbstgleichheit) ist Liebe, Sich selbst im anderen haben (seiner selbst im anderen gewiss sein), ich leugne nicht, daß Deine Identität auch Einheit des Entgegengesetzten sein soll und ist ( vgl. vergleiche Thesen 84 und 86). Aber Du bringst das nicht hinreichend zur Geltung. Deshalb geht für mein Verständnis durch Dein Denken ein abstrakter, die Tiefe des Lebens entleerender Zug. Gegensatz ist für Dich Ergebnis eines irrationalen Willens. Ich leugne nicht, daß sich der Gegensatz zur Stufe der Irrationalität des Willens, der Sünde, steigert. Aber zunächst ist der Gegensatz gesetzt von dem seiner selbst gewissen Ich, das Liebe ist. Denn Liebe setzt Gegensätze, um sich im anderen besitzen zu | können. Einzelnes gibt es nicht nur durch die Tat des irrationalen Willens, die im Heraustreten aus der Identität besteht, sondern der Gegensatz ist ursprünglich, d.h. das heißt in dem Wesen des Absoluten, das Liebe ist, begründet. Deshalb ist These 90 und 91 nicht absolut richtig. Es gibt eine Gewissheit um das Einzelne, nicht nur, sofern es unter allgemeinen Begriffen gedacht wird, sondern auch, insofern es einzeln ist. Das ist eine unmittelbare Gewissheit. Damit ist nicht das Einzelne zum metaphysischen Prinzip gemacht, oder, was m.E. meines Erachtens daßelbe ist, eine Mehrheit qualitativer Realen gesetzt, für die es keine höhere Einheit gibt (These 85). Über allem Einzelnen steht die göttliche Liebe als Prinzip der Einheit. Deshalb kann jedes Einzelne seiner selbst bewusst und froh sein. Es hat den Grund seiner Existenz in der unendlichen Liebe Gottes, die dadurch dem Einzelnen nicht verkürzt wird, daß das Einzelne ihr seine Existenz ableitet, es immer wieder schöpft. (Religiös gesagt: die Majestät Gottes besteht nicht nur in seiner Ewigkeit, durch die er sich selbst gleich bleibt, sondern ebenso sehr in seiner Unerschöpflichkeit, mit der er immer neue Gestaltungen des Daseins schafft.) Fragst Du mich, woher weißt Du, daß das Absolute Liebe ist, so verweise ich auf den 3. Grundsatz. Das ist die Liebe, daß es ein vernünftiges Dasein gibt, da ist Gott im anderen. Wenn Du fürchtest, daß mein Zutrauen zum Unmittelbaren die Normalität ins Schwanken bringe, den Gegensatz von Gut und Böse verwische, so bemerke ich: das Unmittelbare ist, freilich unmittelbar, aber es hat die Form der Vernünftigkeit. Damit legitimiert es sich und muss es sich legitimieren vor der Reflexion. Diese Legitimation ist aber immer etwas Nachträgliches.

3. Der Begriff der Geschichte. These 97 erscheint mir sehr arm. Die Geschichte ist nicht Kampf Gottes mit der Welt, sondern die Liebe Gottes zur Welt. Hier zeigt sich Deine Verwandtschaft mit dem Rationalismus, für den auch die Geschichte Kampf ist. Hier wurzelt auch Deine Schätzung des reformierten Wesens mit seiner (jüdischen) Gesetzlichkeit (These 56) und Deine Verwandtschaft mit dem kantischen, abstrakten Autonomismus, der im Moralismus Kants wurzelt (vergl. These 102 ff). Hierher gehört auch, daß es für Dich das Werk Christi das Kreuz, aber nicht die Auferstehung, das Leiden und das Gericht über die Sünde, aber nicht der Triumph des Lebens (These 77) ist. | Hier wurzelt es, daß für Dich die Individuen alle in den Tod sinken und Gott für sie zuletzt nur das Todesurteil hat. Ich empfinde diese Züge Deines Denkens als Härte, Kälte, wie ich oben von Leere und Abstraktheit ( Nr. Nummer 1) redete. Ich verkenne nicht, daß Größe in diesen Gedanken liegt. Aber die größte Größe ist die Liebe. Sonst bieten mir die Thesen 92 bis 101 nichts.

4. Autonomie als Prinzip der Dogmatik Nach Deinen Ausführungen wirst Du hierzu keine Zustimmung von mir erwarten. Was Du da sagst, erscheint mir als sehr unzureichend. Ich verstehe es auch nicht. Was heißt: Autonomie und Gemeinschaft bedingen sich gegenseitig (These 106), oder was bedeutet die faktische Autorität (Heteronomie) neben der Ablehnung der prinzipiellen Autorität, der Jedermann-Glaube neben dem autonomen (These 113)? Zur These 116-117 bemerke ich: die geschichtliche Wirkung und Wirklichkeit Jesu in seiner Gemeinde ist etwas anderes als ein Gesetz, und eine rechtlich zwingende Autoritätsperson (Papst). In Th. These 118 vgl. vergleiche das iher den Gegensatz in Nr. Nummer 2 Bemerkte. Der reine Monismus ist unmöglich. Die Kritik des Dogmas in These 119-128 ist mir zu aphoristisch, und ihren Prämissen stehe ich nach dem Ausgeführten zu fern, um auf sie näher einzugehen.

5. Die Historische Anschauung Der Hauptthese (These 22) kann ich nicht zustimmen, wie in Nr. Nummer 2 gezeigt ist. Zu These 23 - 28 habe ich mich deshalb nicht zu äußern, wohl zu These 10 - 21. Hier haben wir über den Begriff der historischen Überlieferung und Urkundlichkeit zu verhandeln. Du hast in These 19 und 20 die historischen Fehlerquellen genannt. Aber daß ich mich irren kann, beweist noch nicht, daß ich mich irre. Eine historische Urkunde beweist solange den Vorgang, dem sie entstammt, bis das Gegenteil bewiesen ist. Eine gute Überlieferung, bzw. Urkunde ist durch viele Wahrscheinlichkeiten, die nicht die Stufe der Gewißheit haben, nicht zu entkräften: sie hat unmittelbar Beweiskraft, solange nicht der Fehler gezeigt ist, den der macht, der sie zum Beweis verwendet. Shylock hat das Recht, auf seinem Schein zu bestehen, bis sein Schein ins Unrecht gesetzt ist. So behauptet die urkundliche Überlieferung unmittelbar sich selbst, bis sie als fehlerhaft aufgezeigt ist. Wenn nachgewiesen ist, daß die angelische Urkunde die Form der Vernünftigkeit, die alles Daseiende hat und haben muß (da es aus der Vernunft hervorgegangen ist), nicht hat, dann ist sie ins Unrecht gesetzt, sonst besteht sie zu Recht mit ihrem Anspruch, Wirklichkeit zu bezeugen.

| Die Verwendung der Prinzipien der Analogie und der Kausalität als konstituierender Faktor des historischen Erkennens kann ich nicht für bedenklich halten. Die Vernünftigkeit des Daseins (auch des historischen) garantiert die Einheitlichkeit des Daseins in der Folge von Ursache und Wirkung. Freilich muß aus der Wirkung wirklich nicht mehr als die Ursache und aus der Analogie nur die Analogie geschlossen werden. Das Geschäft des Historikers hat zwei Seiten, er braucht historische Phantasie, um die Tragweite einer Urkunde erfassen zu können, und historische Kritik, um die Gewißheit seiner Schlüsse aufzeigen zu können. Ohne historische Phantasie reden die Steine nicht, ohne Kritik reden sie Unsinn.

Gegen These 16 sage ich deshalb, ein guter, in der Kritik bewährter historischer Bericht ergibt Gewißheit. (Den einzelnen Wundern in den Evangelien magst Du sehr kritisch gegenüber stehen; sie sind ja alle nicht urkundlich bezeugt, höchstens die Auferstehung). Wenn die Biblizisten die historische Kritik nicht anwenden, d.h. das heißt nicht die Berichte auf ihren Wert prüfen, so habe ich nichts mit ihnen zu schaffen (zu These 15). Aber Kritik ist nicht nur da, wo man überliefertes verkehrt. These 9-13 rühren mich gar nicht. Ich weiß, daß die Eschatologie das Bild Jesu nicht erklärt (These 13) und daß wir Vieles nicht verstehen (These 11). Aber wir verstehen immerhin einiges, das genügt. Mögen die Schulen um die Überlieferung von Jesus kämpfen; heute ist nichts unbestritten, das ewigen Wert hat.

6. Kritik der dogmatischen Beweise Gegen These 29 bis 36 habe ich nichts einzuwenden, auch gegen 37-50 nur Einzelnes. Hermann hat Unrecht, da er vom Bild Jesu ausgeht statt von seiner geschichtlichen Wirkung: Der Tatsache der Gemeinde, die mit ihrem geistig-sittlichen Gottesdienst und ihrer Darbietung der göttlichen Gnade ein Stück der Wirklichkeit meines Lebens ist, von dessen Recht ich unmittelbar überzeugt bin, denn ohne diese Gemeinde würde meine Gottesgemeinschaft, von deren Recht mich die Spekulation, die Vernunft, nachträglich überzeugt, leer bleiben. Zu These 39, möchte ich wissen, ob und weshalb Du dem geschichtlichen Jesus die sittliche Reinheit und Kraft die Gottesgemeinschaft bestreitest. Zur These 45: die Macht der Idee ist zweifellos. Die Idee wirkt aber nur da, wo sie nicht unter dem Zweifel an ihrer Durchsetzbarkeit steht. Die alttestamentlichen Erzählungen wirken nur da, wo man (um Jesu willen) an den Gott Abrahams glaubt. Die griechischen Mythen wirken nur da, religiöse und sittliche Erhebung, wo man von ihrem Gehalt anderwärts | überzeugt ist. wirke mal mit einer Idee, an die keiner glaubt, d.h. das heißt von deren Durchsetzbarkeit in der empirischen Wirklichkeit in Gegenwart und Vergangenheit jeder überzeugt ist. Das geht nicht, Vergangenheit und Gegenwart gehören hier zusammen, denn die Wirklichkeit, weil vernünftig, weiß nicht, daß Dein Standpunkt, der zwischen Idee und Wirklichkeit nur den Gegensatz kennt, ganz unvernünftig ist. Aber er ist nicht absolut vernünftig. Er ist stoisch, jüdisch, kantisch, aber weder christlich noch idealistisch. Ein Bild der Einheit Gottes mit der Menschheit, das ausdrücklich nicht mehr als ein Bild, nicht Wirklichkeit im geschichtlich-gemeinschaftlichen Leben ist, erzeugt ein Bild im Individuum. Dieses Bild mag die Tendenz der Durchsetzung in der geschichtlich-gemeinschaftlichen Wirklichkeit haben. Die Gewißheit dafür hat es zum mindesten nicht und erweckt es nicht. Das widerspricht für mich dem Wesen der absoluten Religion, weil dem Wesen Gottes ( vgl. vergleiche Nr. Nummer 1). Hier erscheint wieder der prinzipielle Gegensatz. Ich kann nicht umhin, Deine Position religiös und sittlich minderwertig zu finden. Doch hier stellt und fällt jeder seinem eigenen Herrn. Zu These 49 kann ich nur sagen: diese autonomistische Starrheit kann nur beim Kynismus enden, sie macht sich selbst inhaltlos, da sie schließlich jeden synthetischen Akt aufgibt. Zu den Ausführungen über Christus-Mystik bemerke ich: auch hier ist das Wesen der absoluten Religion verkannt. Es ist natürlich konsequent, anstelle der Gemeinschaft mit Gott in Jesus den endlosen Prozess zu setzen, in dem sich “das dialektische Verhältnis von Abstraktion und Konkretion in der Gottesanschauung” darstellt (These 66). Wenn Deine Voraussetzungen gelten, doch dazu vergl. Nr. Nummer 1. Der Unterschied zwischen Christus und Marienkult besteht auch für mich. Bei angeblichen Erfahrungen von der Wirksamkeit der Madonna kann ich zeigen, daß sie nicht die Form der Vernünftigkeit haben und deshalb irrig sind (These 59). Zu These 63 bemerke ich: woher weiß ich, daß bei Gott die sündenvergebende Gnade ist, daß der abstrakte Gottesbegriff nicht gilt. Hat Gott nur eine Idee von solchem Handeln (Gnade) gegeben, so habe ich auch nur eine Idee davon. Ist die Idee nachweislich nicht mehr als ein Gedicht (These 24), so kann ich nicht an sie glauben, oder es gehört dazu eine unmittelbare Erweckung des Glaubens durch Gott, die dazu kommt. Das Individuum kommt zum Glauben, für Dich wie für mich, nur aus der Unmittelbarkeit. Diese ist für mich in der Sphäre des Geschichtlich- | Gemeinschaftlichen gelegen, für Dich in der reinen Innerlichkeit. Die Wirklichkeit des Individuums scheint mir in dieser nicht gesehen werden zu dürfen. Ich folgere das aus dem Begriff des Individuums. Du scheinst das nicht zu tun. Das ist die prinzipielle Differenz von Nr. Nummer 1. Deine Versöhnungslehre ist konsequent, nur zeigt sie, daß Du das Christentum um seinen Lebensnerv gebracht hast, wie ich zu Nr. Nummer 1,3 und in dieser Nr. Nummer zur These 4/5 gezeigt habe.

7. Schluss Ich verstehe Deine Skepsis gegen die Historizität Jesu und gegen das Christentum überhaupt (für mich gehört Beides zusammen, wie ich dargestellt zu haben hoffe). Ich kann sie wissenschaftlich schätzen, sie treibt vorwärts zur energischen Untersuchung. Ich danke Dir deshalb für die Arbeit, die Du für uns geleistet hast. Ich kann Dir aber nicht zustimmen.

Treulichst
Dein Friedrich Büchsel.
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