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Berlin, d. "vierte Feiertag"

Lieber Friedrich!

Nun ist ein ganzes Vierteljahr vergangen seit jenen Tagen, wo die Probleme gleich den Meereswogen sich zwischen uns dahinwälzten und Du dann die Kritik unserer "Resultate" auf 12 Seiten entwickeltest.1] Wenn ich gehofft hatte, daß ein Verdauungsprozeß, der längere Zeit in Anspruch nehmen würde, meine Kritik am selben Objekt und an Deiner Kritik ans Licht bringen könnte, so habe ich mich bis zu einem gewissen Grade getäuscht. Meine Speise war so andersartig in der Zwischenzeit, daß eine bedeutende Förderung jenes Prozesses ausgeschlossen war. Wenn ich mich trotzdem an eine gewaltsame Verarbeitung in Form dieses Briefes mache, so geschieht es in der Meinung, daß so immer noch mehr für mich herauskommt, als wenn ich jene ganze mir im Grunde doch wichtigste Gedankenwelt bei Seite liegen und einrosten lasse. Mein "Bedauern, daß Du dies lesen mußt" wird natürlich größer sein als Deins; doch tröste ich mich mit dem Gedanken, daß jeder Zwang, Dich in andere Gedanken hineinzuversetzen und Deine eigenen anderen und damit Dir selbst klar zu machen, eine Berufsvorübung für Dich ist. Und nur aus diesem Grunde wage ich, um Antwort in Wechselwirkung zu bitten – praefatio ex –. Deine Prolese gegen den irrationalen Mystizismus tat mir wohl; ich konnte mich auch nie recht damit befreunden. Nicht verstanden habe ich dagegen Deine Kritik an der fundamentalen Notwendigkeit einer erkenntnistheoretischen methodologischen Grundlegung überhaupt; es soll sich doch um eine Wissenschaft handeln; wie kann da die Frage nach ihren Erkenntnismitteln außer Acht gelassen werden? Doch scheinst Du es selbst nicht befolgt zu haben, denn die Zersetzung des Vernunftbegriffs, die Du mir neulich andeutetest, ist doch wohl das Resultat längeren Nachdenkens über diese Frage; und wenn diese Frage wirklich auf die Dauer von untergeordneter Bedeutung wäre, jetzt steht sie zweifellos an der Spitze; denn nicht die Soteriologie und nicht die Pneumatologie steht im Vordergrunde der Debatte, sondern die Christologie und Pisteologie; und die Tatsache, daß hier die Verschiedenheit der Methode im Grunde die Gegensätze in den Resultaten erzeugt hat, zeigt sich charakteristisch darin, daß die Namen unserer Theologenschulen sämtlich von ihrer methodologischen Stellung hergenommen sind: die Religionsgeschichtler, die Ritschlianer,| die "kritische" Schule, die Modern-positiven, die Biblizisten usw. Dieser Tatbestand ist zweifellos insofern bedauerlich, als er die Abhängigkeit übersieht, in der die Methode schließlich doch vor dogmatischen Stellungen steht und dadurch die Debatte leicht fruchtlos und das gegenseitige Verstehen schwierig macht. Überwunden kann der Zustand aber erst dadurch werden, daß an allen Punkten diese Abhängigkeit oder besser Wechselwirkung nachgewiesen wird, etwa im Styl von Schlatters "atheistischen Methoden". Nun eine Vorerwägung, die mehr in Fragen, als in Darlegungen besteht: Haben wir es nicht an der nötigen Scheidung von theologischem und religiösem Erkennen fehlen lassen? Und inwieweit ist diese Scheidung überhaupt durchzuführen? Gibt es nicht 1. Ein religiöses Erkennen, wie es die Unterwerfung unter Jesus im ersten Akt und in allen Fortschritten mit sich bringt? 2. Eine Theorie dieses Erkennens, d. h. die theoretische Betrachtung der Bedingungen und des Inhalts dieses Erlebens? 3. Eine Theorie des theologischen Erkennens, von dem 2 ein Teil ist; d. h. die Betrachtung des Zwecks und der Mittel des theologischen Erkennens? Ad 1: Du schreibst: Religion ist nicht in erster Linie Erkennen; zweifellos; aber es ist eine Tat der Persönlichkeit, durch die auch das Wahrheitsbewußtsein befriedigt werden soll, also auch die Bejahung eines Urteils, verbunden natürlich, oder besser gegründet in einer Beziehung dieses Urteils auf die Person. Ad 2: Manche Dogmatiker nennen diesen Teil Pisteologie. Dorner entwickelt darin in hegelscher Weise die Entwicklung der Persönlichkeit durch Heteronomismus, Autonomismus, Skeptizismus hin zum Glauben. Ad 3: Es ist die Debatte über "Quellen und Normen" der theologischen Erkenntnis, die nun zu den Gegensätzen Biblizismus, Bewußtseinstheologie etc. geführt hat. Unter welche dieser drei Kategorien gehört nun unsere Debatte über Rationalismus und Mystizismus? Ich denke unter die zweite: Wir nahmen das religiöse Erlebnis als gegeben an und suchten zu erkennen, welcher Art es ist. Wir einigten uns weiter darüber, daß es ein mystisches Element enthielte, was rational nicht darstellbar sei. Nun kommt hier aber sofort die Beziehung zu 1 und 2 zum Vorschein; denn 1. ist ein solches Suchen selbst ein religiöser Akt, insofern es in Wechselwirkung mit dem religiösen Wollen tritt und dieses nicht unbeeinflußt läßt und (3) ist diese Tätigkeit keine rein deskriptive, sondern sie wird eine kritische, insofern sie das normale religiöse Erlebnis von| dem unnormalen unterscheidet; und hier spielen die Normen der jeweiligen theologischen Erkenntnistheorie eine Rolle, wie Du z. B. immer auf das AT zurückkommst als Biblizist. Diese ganze Erwägung soll der erkenntnismäßige Ausdruck sein für das Gefühl, das mich bei den Debatten nie verließ, "auf Eiern zu tanzen", d. h. mit einer Menge logisch unbearbeiteter Begriffe zu wirtschaften und mancherlei zu vermischen, was auseinandergehalten werden muß. "Das Wort, das zur rechten Zeit sich einstellt", ist der Teufel des Debattierens, der eventuell eine lange Debatte fruchtlos machen kann, wie ich das häufig beobachtet habe. Andererseits ist es ja richtig, daß der erste und wichtigste Zweck alles Debattierens ist, die Begriffe zu klären, allseitig zu beleuchten, um so eindeutig zu machen. Aber im allgemeinen wird hier viel zu viel vorausgesetzt. Wir wollen über die im religiösen Erleben zum Vorschein kommende Art des Erkennens debattieren und bringen die Begriffe rational und mystisch heran. Zweifellos habe ich ein Begriffsgefühl dabei, etwa in assoziativer Anlehnung an die alte Konfirmandenstundenunterscheidung von Glauben und Wissen, oder an die bekannten Gedanken von der Unerkennbarkeit Gottes etc ... aber worin sich jene Formulierung von diesen unterscheidet und selbst was diese eigentlich sagen wollen, würde ich kaum darstellen können. Alle diese Begriffe sind Stenogramme für umfassende Gedankenreihen; aber ich fühle mich in der philosophischen Stenographie noch sehr unbewandert; die beste Methode, sie zu erlernen, dürfte eine genaue Kenntnis ihrer Geschichte sein; doch zeigen die meisten Geschichten der Philosophie und Dogmengeschichten nur, wie diese Begriffe hin- und hergeschoben wurden, weniger, wie sie entstanden sind. Das wäre eine Aufgabe für Dich; bis dahin mußt Du aber immer – und ich glaube auch in Soest – Dich erst vergewissern, inwieweit das zu behandelnde Problem eigentlich verstanden ist. Trotzdem will ich nun Dir nicht vorenthalten, wie sich mein Verständnis des Problems der Rationalität entwickelt hat. Nachdem der formal logische Intellektualismus sich im Solipsismus eingefangen und vergeblich versucht hatte, durch einen ontologischen Sprung ihm zu entrinnen; nachdem dann der Autonomismus seine Unfähigkeit, Taten zu erzeugen, durch das| Postulat erwiesen hatte: Erst das System, dann die Tat; nachdem dann unter dem unbewußten Einfluß dieser beiden Gedankenwelten der Versuch, an irgend welchen einzelnen Punkten anzuknüpfen immer wieder durch die Kreuzung der theoretischen Schwierigkeiten, die aus der faktischen Irrationalität der Wirklichkeit und der praktischen Unfähigkeit, die aus dem Versagen der Autonomie stammten, gescheitert war, kam mir die Möglichkeit eines anderen Ausgangspunktes lebendig zum Bewußtsein. Der Gedanke stellte sich mir etwa so dar: Der minderwertige religiös-sittlich-philosophische Zustand des "noch nicht" kann doppelt beurteilt werden; entweder bejaht, mit der Motivierung, daß eine persönliche Entscheidung in irgend einer Richtung noch nicht möglich ist, da die notwendig vorausgehende Abwägung der Gedanken und Möglichkeit noch nicht zum Abschluß gebracht ist. Die Normen wären dann im Ich begründet, also autonom und rational, selbst wenn sie sich logisch als denknotwendige Paradoxien herausstellen sollten. Die unbewußte Voraussetzung: Das Ich setzt sich selbst, auch wenn es im Verlauf dieser Setzung die mittelbare Hilfe Gottes in Anspruch nehmen müßte: Er wäre immer nur ein Korrelat des Ich, wie Du es ausdrückst. Oder obiger Zustand wird verneint mit der Motivierung, daß er nur das Sträuben gegen Gott ist; dann tritt alles unter die Norm des lebendigen Gottesgedankens, und die Voraussetzung, die sich in allen Einzelheiten durchsetzen muß, ist: Ich setze mich als von Gott gesetzt oder: Gott setzt mich für ihn; die Frage ist dann immer: Inwiefern genüge ich dieser Setzung? Das Entweder – Oder fordert eine Entscheidung heraus, die nicht mehr rational, denn dagegen wird ja gerade entschieden, zu begründen ist, sondern nur geschichtlich, in unserer eigenen und der größeren, von der unsere abhängt. In dieser Ausführung ist jedoch noch ein Punkt, der weiter geführt werden muß: Wie verhält sich der Wahrheitsgedanke einerseits zur Vernunft, andererseits zu Gott? Gott soll die Wahrheitsnorm sein; wie ist das möglich? Und die Vernunft soll abgesetzt werden; ist der Dualismus erträglich? Wird er sich nicht daran als Illusion erweisen, daß unbewußt die Vernunft sich des Gottesgedankens und der Gottesoffenbarung bemächtigt und so doch schließlich regiert? Ich glaube, es wäre nicht schwer| hier eine Reihe von theologischen Beispielen anzuführen. Hier nun scheint mir der Gedanke, den Du neulich aussprachst, einzusetzen: Es gibt überhaupt keine "Vernunft". Dann würde obige Entscheidung keine zwischen Vernunft und Geschichte sein, sondern zwischen verschiedenen Momenten der Geschichte. Ist Dein Gedanke derart? Die Beantwortung dieser Frage, an der mir viel liegt, mag der Haken sein, an dem Du Deinen Antwortbrief aufhängen kannst. Falls Du also hier auf Deiner Durchfahrt keinen Aufenthalt machen kannst, hoffe ich diese Form eines Lebenszeichens von Dir in Bälde zu sehen. Empfiehl mich bitte Deinen Eltern und Deiner Schwester.

Herzlichen Gruß
Dein dankbarer Paul.
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    • Schlatter, Adolf, Atheistische Methoden in der Theologie. Gütersloh: C. Bertelsmann, 1905.