Undatierter Brief von Paul Tillich an Friedrich Büchsel, vermutlich aus dem Jahr 1911

Zum TEI/XML DokumentAls PDF herunterladen

Der editierte Text

|
a, d. 1911
Lieber b

Allerdings tat es mir leid, daß in c nicht auf mich eingegangen wurde. So kam es, daß die eigentlichen Zentralpunkte nur flüchtig berührt und nicht im Entferntesten erledigt wurden. Umso dankbarer bin ich Dir, daß Du eingehend geschrieben hast. Freilich sehe ich daraus auch, daß es noch viel Auseinandersetzungen kosten wird, ehe wir uns ganz verstanden haben. Manches, was Du kritisiert, trifft nur die Form meiner Thesen. So vor allem der Anstoß an dem Satze: Ich = ich als Prinzip der Erkenntnis. Wenn ich bei den Übrigen die Hegelkenntnisse vorausgesetzt hätte, die du hast, so hätte ich einfach in Form von den Grundsätzen nach d deduziert. Zugestanden, „Ich = Ich“ ist ungeschickt formuliert. Identität ist Einheit des Entgegengesetzten.

2. Nun aber eine wichtige sachliche Bemerkung: Gibst Du zu, daß Individualität nicht Prinziep sein kann, da mehrere höchste Prinzipien die Einheit der Wahrheit zerstören? Sicherlich! Dann fragt sich, wie kommst Du zum Entgegengesetzten? Durch den zweiten Grundsatz! Richtig! Du nennst ihn unableitbar! Richtig! Ich nenne das Unableitbare Irrationales und unterscheide es von der Sünde, wie das unmittelbar gesetzte Irrationale, vom sich setzenden, geistig gewordenen Irrationalen. Du wirst dem auch zustimmen. Ich nenne die Geschichte einen Kampf, in dem sich die Einheit durchsetzt, was natürlich zugleich heißt, in dem die Vielheit zur Realisierung kommt. Statt Kampf könnte ich auch sagen: stufenweise Entfaltung, Offenbarung des Reichtums Gottes. Und was soll nun die Formel „Wesen und Widerspruch“, die mein höchstes Prinzip ist? Sie heißt zu deutsch: Liebe. Ich frage nach dem Sinn der göttlichen Liebe, die mir ja als religiösem Menschen Qualität ist, und finde, sie besteht darin, daß Gott sich in Ewigkeit als Einheit von Wesen und Widerspruch setzt, den Widerspruch trägt und überwindet, beides aber ewig. Gewiss ist das arm, wie jede höchste Formel arm ist, aber sie trägt allen Reichtum in sich. Der Triumph der Liebe ist auch mir anschaulich in der Auferstehung. Daß ich diese Seite nicht erwähnte, ist Zufall. Wenn wir uns aber in die reine Spekulation begeben wollen, so berufe ich mich auf es Lehre von dem ewigen innerlichen Prozess, der Setzung und Wiederaufhebung des Einzelnen, sodass es zu „keiner Ernsthaftigkeit des Andersseins“ kommt.|

Du wirst sagen: Also auch zu keiner Ernsthaftigkeit der Liebe. Gut. Das eben ist das Wesen der felix culpa, daß sie diese Ernsthaftigkeit schafft, aber überzeitliches, ewiges Ziel ist doch diejenige Einheit, die einen „ernsthaften“ Widerspruch nicht in sich schließt, resp. als Überwundenen unter sich hat.

3. Doch zurück auf die Erde: Daß Du meinen Abschnitt über „Autonomie und Gemeinschaft“ nicht verstehst, ist mir unverständlich, da Du mir vorwirfst, das nicht zu haben, was ich hier aussage, ich kenne kein Individuum als solches. Das ist die dümmste der Abstraktionen, und ich würde mich schämen, wenn Dein Vorwurf zuträfe. „Gemeinschaft“ ist ein vollkommen selbständiger Begriff, dem eine ebenso selbständige Realität entspricht. Ein Bild: Die Gemeinschaft ist das Netz, die Einzelnen die Knotenpunkte. Das Netz ist das logisch Primäre. Die Substanz des Netzes sind die Fäden, d.h. in der Gemeinschaft die Geistigkeit von ihren einfachsten Formen, Sprache, Sitte etc. bis hin zur Religion. Denken wir uns das Netz kunstvoll, so gibt es wichtige Knotenpunkte, etwa auch einen Mittelpunkt, aber prinzipiell ist auch dieser Mittelpunkt ein Teil des Geflechtes, und nur in ihm wirklich. Anders aber die Substanz: Sie ist mit jedem Einzelnen identisch, steht ihm aber auch gegenüber. Dein Bild vom Fackeltanz ist deshalb nicht richtig, weil ich ja dem Einzelnen eine ewige Bedeutung im innergöttlichen Prozess zuschreibe. Und nun die Autonomie: Ich nenne faktische Heteronomie (ein nicht glücklicher Ausdruck) die Tatsache, daß, wenn ein Knotenpunkt (Individuum) sich aus seinen Zusammenhängen lösen und über das Netz stellen wollte, er ein Nichts würde. Ich nenne prinzipielle Heteronomie den Versuch, ein Stück aus dem Netz abzugrenzen und dieses Stück als einzigen Träger der Substanz anzusehen. Ich nenne Autonomie die Beziehung zu allen Teilen des Netzes, unmittelbar und mittelbar, je nach der Art der Verknüpfung. Dabei wird sich die Bedeutung des Mittelpunktes vermutlich herausstellen, aber immer nur in der Art, wie ich mit ihm verknüpft bin. Je weiter dagegen meine Beziehungen zum gesamten Netz sind, desto umfassender auch meine Kenntnis des Mittelpunktes. Aber nicht darauf kommt es an, sondern auf mein Verhältnis zur Substanz, zum Geist, zu Gott. Je mehr ich im Mittelpunkt stehe, desto besser ist das möglich. Aber nicht zu dem Mittelpunkt (historischer f) habe ich ein Verhältnis, sondern zur Substanz.

4. Du nennst mich Skeptiker und darum arm wie jeden Skeptiker. g wundert sich, wie seit h „der Reichtum der Tradition“ so schnell von den aufklärerischen Dürftigkeiten
| hinweggefegt werden konnte. Ich wundere mich nicht darüber. Lieber eine Gewissheit, als eine Welt von Ungewissheiten und ein Heer von Wahrscheinlichkeiten. Ich hasse die Reichen und Satten und Vollen, die den Kampf um jeden Pfennig Wahrheit nicht kennen und mit harten Bäuchen und vollen Taschen auf den Millionen sitzen, die sie nicht erworben haben. Willst Du sie verteidigen? Willst Du Dich auf ihre Seite gegen uns „Proletarier“ stellen? Fast scheint es mir so, wenn Du von der unmittelbaren Gewissheit sprichst, die nur durch harte Gegenbeweise zu erschüttern sei, oder wenn Du von einer Urkunde sagst, sie gäbe uns solange Gewissheit bis sie als falsch erwiesen sei. Also die Gewissheit der i führst Du gegen mich zu Felde? Diesen Reichtum lasse ich Dir gern! Freilich für die Praxis des Tages ist diese Scheingewissheit recht brauchbar. Wie sollten wir sonst patriotische Reden halten, erbauliche Exempel erzählen, Geschichtsunterricht erteilen, die Tradition verstehen; aber wenn es sich um „meinen einzigen Trost im Leben und im Sterben“ handelt, dann will ich mehr als noch nicht widerlegte Dokumente. Nein: damit fängt der Geist an, dass er sich in einem einzigen Akt (der 20 Jahre dauern kann) von seiner Unmittelbarkeit losreißt und allem Nein entgegensetzt; um nun aus dem Material des Unmittelbaren (also nicht rationalistisch) sein Gebäude der Gewissheit aufzuführen.

5. Du nennst meine religiöse Stellung minderwertig. Erstens, weil eine Idee, an die niemand glaubt, nicht die Kraft hat, sich durchzusetzen. Du machst mir den Beweis leicht, daß ich nicht weniger habe als Du; denn Du hältst doch j für das Gute schlechthin, nicht für ein erreichbares Ideal. Auch Du also kennst keine Realisierung der Idee, die für uns allein Bedeutung haben könnte, der Idee des begnadigten und nun auch völlig sündlosen Sünders. Was nützt uns die Kunde von einem Wunder, das sich bei uns doch nicht wiederholt? Es kann uns doch nur das Ideal zugleich mit dem Postulat seiner Unerreichbarkeit eindrücklich machen. Aber wozu muss es dann realisiert sein? Doch Du wirst diesem Nebengedanken kein Gewicht beilegen. -Zweitens, weil ich die Gemeinschaft mit Gott nur in der Idee hätte. Ich bitte Dich als Idealisten, die schülerhafte Verwechslung von Idee und Gedanke zu vermeiden, die Du scheinbar zu vollziehen scheinst, im Ernst willst Du es ja
| nicht. Idee ist diejenige Wirklichkeit, in der Denken, Sein, Begriff und Anschauung eins sind, also die höchste, konkreteste, schlechthin anti-abstrakte Wirklichkeit. „Nur Idee“ heißt also zu deutsch „nur göttlich“. Nicht wir haben Ideen, sondern sie haben uns, denn nicht wir haben Gott, sondern Gott hat uns. Daraus, daß wenn Gott uns hat, er auch unseren Intellekt hat, d.h. uns auch einen Gedanken von sich gibt, wirst Du nicht bestreiten. Nun aber fragt sich, wie ein derartig neues Verhältnis zustande kommt. Offenbar kann das Denken hier nicht das Primäre sein, denn es ist der Reflex des inneren Vorgangs. Wie aber kommt dieser innere Vorgang zustande? Zunächst werden wir uns darin einig sein, daß hier, wie bei jedem schöpferischen Akt, ein Geheimnis liegt. Das Zunächst liegende ist es wohl, die schöpferische Tat eines Einzelnen für die Hauptquelle zu erklären (Propheten, Religionsstifter). Dabei ist natürlich energisch zu betonen, daß auch diese Größten nichts wären, ohne die Gemeinschaft, aus der sie erwachsen sind und mit der sie in Wechselwirkung stehen. Aber ebenso liegen auch Beispiele geistiger Bewegungen vor, bei denen ein Einzelner keine solche Rolle spielt. Was nun die Form der derartiger Anfänge betrifft, geschieht sie durch die persönliche Gemeinschaft in allen Formen, sittlich, intellektuell, ästhetisch. Vielleicht kommen wir dem Ursprung noch näher, wenn wir unterscheiden zwischen Faktum und Deutung. Irgendeine Tatsache wird mit Gott in Beziehung gesetzt. Eine Kombination wird vollzogen, und diese Tat ist das Schöpferische. So würde ich sagen, daß die Kombination von Kreuz und Auferstehung die Tat k war, die natürlich in erster Linie eine Tat des Gehorsams, dann erst eine des Denkens war. Ebenso ist es in der Gemeinde, die in der Anschauung des Kreuzes und als Glaube immer diese Tat als Buße immer vollziehen muss, vollenden kann. Aber was soll das alles? Nur Dir zeigen, daß ich mir die Entstehung und Fortpflanzung der christlichen Stellung zu Gott nicht intellektualistisch denke. Der Geist, der von l ausgeht und in der Gemeinde wirkt, ist die Kraft des christlichen Glaubens. Zu den Schöpfungen dieses Geistes gehört auch eine neue, konkrete Gottesanschauung: die Anschauung Gottes als des Gekreuzigten und Auferstandenen und das Gebet zu diesem Gott. Nun aber kommt Dein Einwand: Es war unmöglich, daß im Zusammenhang der Religionsgeschichte der christliche Geist auftrat; er steht in einem totalen Gegensatz zu allem Vorangehenden, er bedeutet eine totale Neuschöpfung.|

Der Schöpfer dieses Geistes kommt also nicht als geschichtliche Persönlichkeit in Erscheinung, sondern als das absolute Naturwunder, die Setzung eines neuen Anfangs. Das ist klar ausgedrückt und gibt dir den Vorwurf ungeschickten Denkens zurück. Aber für wen m das Wunder ist (nicht der Gipfel desjenigen Wunders, das der Geist immer und überall zur Natur ist), der hebt ihn aus den eigentlich geschichtlichen Zusammenhängen heraus, wenn er auch noch so sehr im Einzelnen zeitgeschichtliches nachweist. Aber ich will Dir eine supernaturalistische Voraussetzung zugestehen. Ich will Dir das absolute Wunder zugeben. Ist dadurch meine These erschüttert? Nicht im Geringsten! Denn nun ist allein ein neuer (psychologisch recht wirksamer) Satz über den Ursprung aufgestellt. Aber dieser Ursprung kann völlig im Dunkeln bleiben: Ein weiterer Satz als der: In dieser uns unbekannten Persönlichkeit wurde das neue Verhältnis von Gott und Mensch gesetzt, ist aus Deiner These nicht abzuleiten. Oder willst Du mehr ableiten? Die einzelnen Worte? Sie könnten aus seinem Geist zurückgeführt werden. Seine Auferstehung? Du hast mir selbst zugegeben, daß an einer leiblichen Auferstehung nichts gelegen ist. Also kommt es auf die Fortexistenz eines Geistes, seiner individuellen Persönlichkeit in Gott an. Und das Sterben? Sicherlich müssen wir den sich im Kreuze n darstellenden Willen, Gott bis zum Tode zu gehorchen, in irgendeiner Weise auf ihn zurückführen. Denn eben dieser Wille ist das Wesen des christlichen Geistes. Ja, aber ist alles. Nicht ein einziger konkreter Zug ist außerhalb dieser Weise zu erreichen. Und vor allem: diese ganze Frage hat mit dem Glauben nichts zu tun; es ist eine sekundäre geschichtsphilosophische Frage, eine Frage nach der Kausalität, die ganz unwichtig ist. Mir liegt gar nichts daran, vom historischen o irgendwelche herabsetzenden Thesen aufzustellen, aber ich habe auch keinen Grund, mehr zu behaupten als ich in den Evangelien berichtet und historisch finde. Wenn ich aber auch das höchste hier berichtet und historisch fände und wenn ich aus meinem Geistbesitz heraus postulieren könnte, daß es auch so gewesen ist; Gegenstand meines Glaubens würde es nie sein. Das ist allein Gott und zwar der Gott, der mich in der Gemeinde der Sündenvergebung versichert und der mir in der Geschichte von p und ihrer inneren, göttlichen Wahrheit deutlich macht, daß es göttlich ist, dem, der das göttliche Gericht anerkennt, die Sünden zu vergeben. 1


Fußnoten, Anmerkungen

1Handschriftlich: Gewissheit ist der Geist oder die neue, unzerreißbare und darin absolute Gemeinschaft mit

Register

aNauen
bBüchsel, Friedrich Hermann Martin
cKassel
dHegel, Georg Wilhelm Friedrich
eHegel, Georg Wilhelm Friedrich
fJesus
gSchlatter, Adolf
hDescartes, René
jJesus
kJesus
lJesus
mJesus
nJesus
oJesus
pJesus

Überlieferung

Signatur
Deutschland, Marburg, Philipps-Universität Marburg, Deutsches Paul-Tillich-Archiv, 008 B
Typ

Brief, maschinenschriftlich

Postweg
Nauen - unbekannt
voriger Brief in der Korrespondenz
Brief von Paul Tillich an Friedrich Büchsel vom 28. Dezember 1907
nächster Brief in der Korrespondenz
Brief von Friedrich Büchsel an Paul Tillich vom 30. September 1911

Entitäten

Personen

Orte

Zitiervorschlag

Undatierter Brief von Paul Tillich an Friedrich Büchsel, vermutlich aus dem Jahr 1911, in: Paul Tillich, Korrespondenz. Digitale Edition, hg. von Christian Danz und Friedrich Wilhelm Graf. https://tillich-briefe.acdh.oeaw.ac.at/L00280.html, Zugriff am ????.

Für Belege in der Wikipedia

{{Internetquelle |url=https://tillich-briefe.acdh.oeaw.ac.at/L00280.html |titel=Undatierter Brief von Paul Tillich an Friedrich Büchsel, vermutlich aus dem Jahr 1911 |werk=Paul Tillich, Korrespondenz. Digitale Edition. |hrsg=Christian Danz, Friedrich Wilhelm Graf |sprache=de | datum= |abruf=???? }}
L00280.pdf