Der editierte Text

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Liebes Paulchen (Details anzeigen)!

Ich machte ein unglaublich dummes Gesicht als ich gestern Deinen Brief bekam. Das mach ich nämlich immer, wenn ich sehr gerührt bin. Ja man muß immer wieder die Erfahrung machen, wie edel die Mitmenschen sind. Aber nun will ich Dir auch beweisen, daß ich noch nicht so verdorben bin, daß anderer Leute Feindesliebe ganz wirkungslos an mir abprallte.

Also zuerst meinen herzlichsten Glückwünsche zum neuen Jahr. Ich weiß nicht, ob es Dir auch den Kampf mit den Examenswochen bringt. Mir graut ziemlich davor, denn auch in des Hirnes Sieb wenig übrig blieb. Ich schaue immer teilnahmsvoll u. mitfühlend auf den hellenischen Hades zu jenem armen Kerl, der einen Block| den Berg hinaufwälzen muß, der dann immer wieder hinunterrollt, das ist meine dogmengeschichtliche Arbeit; u. auch den armen Damen, die Wasser im Sieb in ein löchricht Faß haben füllen müssen, das ist meine Einleitungsarbeit. Ich weiß nicht, ob es Dir auch so geht, jedenfalls ist es mir oft deprimierend u. man muß schon den ganzen gemütlichen Anblick eines schwäbischen Schwarzwaldpfarrhauses dagegen halten, gefüllt mit sich erholenden Konsistorialräten, Lizentiaten, Generalsuperintendanten u. Theologieprofessoren, um einigermaßen die schmerzliche Entdeckung zu tragen, daß man eben nicht als zur wissenschaftlichen Leuchte bestimmt ist.

In Deinem vorletzten Brief fragst Du obs nicht angenehmer sei, bei Leuten Einleitungsfragen zu hören, die nicht „blutenden Herzens“ etwas für unecht erklären. Das ist schon richtig. Aber bei der Gegenseite ist es noch schlimmer. Hier handelt es sich darum, daß sie ihre Art Christentum ver| teidigen gegenüber, indem sie die Schriften, die nicht damit zusammenstimmen für unecht erklären. Das ist etwas grob ausgedrückt. Aber ich will nur damit sagen, daß weder positiver Standpunkt noch liberaler darin irgendwie verschieden wirken. Vertrauen Dogmatik u. Einleitung stehen in Wechselwirkung, das muß so sein in der evang. Kirche, wo die Schrift normativ ist. Vertrauen kann man nur der Partei der „wahrhaftigen Leute“ (Häring (Details anzeigen)) die das Sehen mehr werten als das Vorurteil. Natürlich gelingt das bei Jedem verschieden, auch bei gutem Willen. Am ehesten wird es denen gelingen, die einen reichen religiösen Besitz haben so daß es ihnen echt scheint, wenn sie mal was für unecht erklären müssen, u. damit ihre Dogmatik etwas ändern. Denn daß religiöser Besitz u. Dogmatik nicht das Gleiche ist, das glaubst Du doch auch. Wir wären sonst arm dran mit unserem Konklomerat [sic!] v. Kähler (Details anzeigen), Schlatter (Details anzeigen), Lütgert (Details anzeigen) u. Häring (Details anzeigen) etc. Darum vertrau ich in Einleitungsfragen| den Leuten, an denen ich sehe, daß sie sich unter Gott beugen u. glauben, daß so wie es ihm gefallen hat, seine Offenbarung zu sehen geben, daß es so recht ist (cf. Schlußbemerkung in Kurtzschs (Details anzeigen) Alt. T. Einleitung in der Bibelübersetzung verglichen mit Gunkels (Details anzeigen) Sprüchen aus denen der Hochmut ellenlang heraussieht).

Deine Katechese ist so schlimm nicht. Den Dämonischen machst Du am besten an Epileptischen klar, das haben sie schon gesehen, überhaupt am Wahnsinnigen daß er Christus erkennt, ist doch religiöser Wahnsinn, in der Zeit hochgespannter Messiaserwartung. Davon kannst Du ihnen in kindlicher Weise gut erzählen. Das ganze verwendet man als Zeichen von Jesu Liebe u. Macht. Wie arm ist solch Verrückter, wie verstoßen von den Leuten. Dabei kann man ihnen noch die rechte Stellung zu den Verrückten zeigen, das niedere Volk ist fast noch eben so roh wie die damaligen Leute. Dagegen die Bodelschwinghschen Anstalten. Wir können nicht mit einem Machtspruch heilen, wie der X.| aber die gleiche Liebe können wir {zeigen} in der Pflege u. freundlichen Art gegenüber solchen Armen. Christi Macht aber ruft unser Vertrauen hervor etc. In der Lektüre des NT. mache ich es so, daß ich zuerst den Brief mit Weizäcker (Details anzeigen) durchgehe, so daß ich ihn fließend lesen kann; dann mit Schlatter (Details anzeigen) damit ich begreife, was der Evangelist von seinen Lesern will, (zugleich als Mittel, daß das NT nicht nur Studienobjekt wird). Dann erst lese ich dies oder jenes mit wissenschaftlichen Kommentaren, dann kann man auch eine langweilige, wissenschaftliche Erörterung aushalten, wenn der Brief als Ganzes einem Wwert geworden ist.

Im letzten Quartal habe ich vollends Kg II hinter mich gebracht. Auch AT. Einleitung. Was mir schwer dahängt ist mein Hebräisch. Drum habe ich noch die Ps. übersetzt. Das hatte ich doch zu sehr liegen lassen, nun läßt sichs nicht mehr hereinholen. Auf 12. Jan. habe ich eine Katechese über 9 u. 10 Gebot. Das ist furchtbar langweilig| eine nt. Geschichte ist viel freier zu behandeln. Übrigens ist Wurster (Details anzeigen) sehr fein, in seiner Katechetik Soweit man die stumpfsinnigen praktischen Übungen mit auskatechesierten Jungens u. grinsenden Stiftlern geniesbar [sic!] machen kann, soweit macht er es.

Lorenz (Details anzeigen) ist auf höheren Befehl in Tüb.Tübingen (Details anzeigen) geschrieben geblieben. Ich bedauerte es, aber bei uns konnte er diesmal nicht sein. Du weißt ja, wie solch ein Weihnacht ist, wo zwei liebe Augen fehlen; wenn ich auch recht merken könnte, daß Weihnachtsfreude größer ist als alles Menschenleid. Die armen Vogets (Details anzeigen). Sie hängen sehr an ihrem Vater. Es wird jetzt auch recht schwer werden mit dem Studium.

Von Büchsels (Details anzeigen) Bereich {Soest} erzählte mir {Banse} allerlei erschreckliches. Der Direktor ist scheints ein ganz verlogener Mensch; überhaupt noch schwierigere Verhältnisse als sonst in den KandidatenKonvikten u. das will wohl viel heißen. Wenn Du ihm schreibst, so sag ihm auch, daß mir ein kleines „Drachenjunges“ große Freude machen würde.| Ich mag ihm nicht schreiben, ich kenne ihn zu wenig, durch eigene Schuld, aber ich wollte nicht. überall Von Berlin (Details anzeigen) schrieb mir schon Albert (Details anzeigen) über die dortigen Verhältnisse. Das sind ja wieder schöne Geschichten. Hoffentlich gelingt Euch diesmal ein energischer Eingriff. Warum habt Ihr nicht sogleich die Paragraphen beantragt, unter dem Eindruck des Geschehenen wären sie eher durchgegangen als jetzt nach den Ferien. {Engelbert} war in Tü.Tübingen (Details anzeigen) u. sehr erstaunt über die veränderten Verhältnisse. Doch darf man nicht zu viel hoffen. Der ganze feine Zug liegt kommt fast nur vom X. XX würde nicht viel leisten, er ist unglaublich weichlich (übrigens Lbb meines Bruders Richard.) Doch mit X zusammen geht es gut. Ob es bloß eine Episode ist? Ich weiß es nicht. Bei der geringen Burschenzahl haben, eben Leute, die sonst ganz unbedeutend wären, großen Einfluß. Wir werden lernen müssen, Halle (Details anzeigen) für unwiederholbar zu verstehen. Es hat eben außerordentlich günstige| Verhältnisse.

Du hast doch feine Gesellschaft u. viel Geischt um Dich. Ich stehe ziemlich allein. Lorenz (Details anzeigen) tut ja was er mir an den Augen ablesen kann, aber für den Geischt hat man nicht viel von ihm. Daniel (Details anzeigen) ist auch mehr für die Patologie [sic!] des Denkens, als für das Denken selbst anregend. So habe ich so oft große Sehnsucht nach dem „verlorenen Paradies“. Übrigens erfahre ich von Dir wenigstens etwas von Halle (Details anzeigen). Direkt erhielt ich nur die „Dogmatik“, das ist ja auch etwas. {Kamlich} war zwar in Tü.Tübingen (Details anzeigen) aber ich lies ihn zur großen Entrüstung Schuberts (Details anzeigen) nur meine angenehme Rückseite bewundern. Was er sonst in der Verbindung berichtete, ist Blech (Details anzeigen), der Halle (Details anzeigen) nur schaden konnte. Zu Zeiten von Schafft (Details anzeigen) u. Tillich (Details anzeigen), da seis wohl noch etwas gewesen, aber jetzt sei nur noch Epigonentum. Na ich danke Balke (Details anzeigen) = Epigone, oh je. Was meinst Du mit Heim (Details anzeigen)? Ist er denn unter die Verbindungsgötter aufgenommen? Grüße Witte (Details anzeigen). u. Ernst Grundlies (Details anzeigen), der mir aus der kurzen Zeit, da ich ihn sah in recht lieber Erinnerung ist. Deinen Vater (Details anzeigen), ebenso wie Fräulein ... (nicht sagen, daß ich den rechten Namen vergessen habe) u. Frl. Schwester (Details anzeigen) erlaube ich mir die ergebensten Neujahrsgrüße zu senden.

Dich besonders grüßt herzlich Dein

Alfred (Details anzeigen)


Fußnoten, Anmerkungen

Register

aStuttgart
bTillich, Paul
cHäring, Johann Theodor von
dKähler, Martin
eSchlatter, Adolf
fLütgert, Wilhelm
gHäring, Johann Theodor von
hKurtz, Johann Heinrich
iGunkel, Hermann
jWeizsäcker, Carl Heinrich
kSchlatter, Adolf
lWurster, Paul von
mBertheau, Lorenz
nTübingen
oVoget, Johannes
pBüchsel, Friedrich Hermann Martin
qBerlin
rKilger, Albert
sTübingen
tHalle (Saale)
uBertheau, Lorenz
vSchubert, Daniel
wHalle (Saale)
xTübingen
ySchubert, Daniel
zBlech, George
aaHalle (Saale)
abSchafft, Hermann
acTillich, Paul
adBalke, Hans
aeHeim, Karl
afWitte, Hermann
agGrundlies , Ernst
ahTillich, Oskar
aiFritz, Johanna
ajFritz, Alfred

Überlieferung

Signatur
USA, Cambridge, MA, Harvard University, Harvard Divinity School Library, Tillich, Paul, 1886-1965. Papers, 1894-1974., bMS 649/143(11)
Typ

Brief, eigenhändig

Postweg
Stuttgart - unbekannt
voriger Brief in der Korrespondenz
Brief von Paul Tillich an Alfred Fritz am 29. Dezember 1907
nächster Brief in der Korrespondenz
Brief von Paul Tillich an Friedrich Büchsel vom August 1908

Entitäten

Personen

Orte

Zitiervorschlag

Brief von Alfred Fritz an Paul Tillich vom 31. Dezember 1907, in: Paul Tillich, Korrespondenz. Digitale Edition, hg. von Christian Danz und Friedrich Wilhelm Graf. https://tillich-briefe.acdh.oeaw.ac.at/L00256.html, Zugriff am ????.

Für Belege in der Wikipedia

{{Internetquelle |url=https://tillich-briefe.acdh.oeaw.ac.at/L00256.html |titel=Brief von Alfred Fritz an Paul Tillich vom 31. Dezember 1907 |werk=Paul Tillich, Korrespondenz. Digitale Edition. |hrsg=Christian Danz, Friedrich Wilhelm Graf |sprache=de | datum=31.12.1907 |abruf=???? }}
L00256.pdf