Brief von Hans Schreiber an Paul Tillich vom 31. Dezember 1907

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Der editierte Text

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Lieber „Mann“,

Um Deinen Neujahrswünschen am Schlusse Deines Briefes Rechtskraft zu geben, greife ich schleunigst zur Feder, um nach Kähler (Details anzeigen) zur Ordnung meines Briefsystems (monatlich 2 Briefe an Dich!) zurückzukehren.

Mancherlei, vor allem die Dir von Balke (Details anzeigen) mitgeteilten Ereignisse, haben ja leider diese Ordnung für den Monat Dezember sehr ins Wanken gebracht, aber, wie gesagt, ich kehre ja jetzt zur Ordnung zurück.

Was nun meine Person angeht, so bin ich, körperlich betrachtet, wieder auf den Beinen| d.h. meine v.H. ist geheilt, Fieber und Pocken verschwunden, mein Magen beginnt wieder besser zu funktionieren; psychisch betrachtet, geht es ja so ziemlich, d.h. ich lese durch Schmuhl (Details anzeigen) angeregt, mit großem Vergnügen Dickens (Details anzeigen), außerdem arbeite ich etwas Möller-Schubert (Details anzeigen), übersetzte teta und lese Locke (Details anzeigen); außerdem mache ich Musik (Klavier und Horn) und sehr begabte, ästhetisch-sentimale Spaziergänge mit in die Einsamkeit unsrer Berge bei prachtvoller Abendleuchtung auf der frostklaren Winterlandschaft; endlich pneumatisch (cf. Tief-Innerliche bei Ritter (Details anzeigen)!) betrachtet, ja: noch immer ziemlich ein großes Fragezeichen und Herrmanns (Details anzeigen) Verkehr des Christen mit Gott.

Deshalb, ich soll dir ja vor allem von Halle (Details anzeigen) schreiben. Ja, es war doch schade, daß ich nun| daß [sic!] Begabteste im Semester, die Weihnachts- und Receptionskneipe nicht miterlebte. Beim Familienabend war ich noch dabei, wenn auch schon unwohl. Es war wüst begabt. Nur das kam daher, weil wir in Erinnerung an den Familienabend vor einem Jahr bei Schafft (Details anzeigen) zu Lebrecht Hühnchen griffen. Es war wirklich sehr gemütlich. Wir sangen Weihnachtslieder u.s.w. Aber nach der Art der Familienglieder konnte man wirklich nicht vermuten, daß wir uns innerhalb von ZWAR – ABER befanden. Denk Dir Steltz (Details anzeigen) war gastweise bei uns und noch ein Zähringer (Details anzeigen) (Kneipgast)! Aber daß man in Halle (Details anzeigen) jetzt im Zeitalter der Epigonen lebt, daß kann man so recht an unsrer Familie merken: Nickel (Details anzeigen), {F-P}. Seine beiden Lbfxe, Bublitz (Details anzeigen), Kilger (Details anzeigen), H. Vet| hake (Details anzeigen) und meine Geistesgröße. O, Zwar – Aber, wohin ist es mir dir gekommen! Aber ist's auch nicht No. I, so vielleicht doch noch No. II. Und es wird im nächsten Quartal schon ganz nett werden, wenn wir uns etwas anstrengen, zumal man sich jetzt schon besser kennt und enger aneinander schließt.

Im Übrigen habe ich in diesem Quartal ziemlich viel mit Joh. Kilger (Details anzeigen) verkehrt. Der arme Kerl hat es doch in vieler Beziehung nicht leicht. Wir haben zusammen fast die ganze teta übersetzt, die ich jetzt in den Ferien vollende. Im nächsten Quartal wollen wir den Römerbrief vornehmen. Außerdem war ich mehr wie sonst mit Spatz (Details anzeigen) zusammen. Wir haben beide eine leichtsinnige Ader, das führt schon zusammen und dann Frau {Manica}.| Er hat mich ziemlich oft begleitet, nach Familienabenden im Kneipsaal (wie früher Sepp (Details anzeigen)!!), auf der Kneipe, beim Sonntagskaffon etc.

Doch Du möchtest über Heim (Details anzeigen) hören. Ja, mein Lieber, da verlangst Du zu viel. Mir ist sein Relativismus noch recht unklar, denn der Wahrheitsgedanke ist futsch, und ob man das auf die Dauer wirklich ertragen kann? Es könnte ja sein – kürzlich hatte ich auf einer Abendgesellschaft bei Tante Wilke ein kurzes, aber sehr interessantes Gespräch mit Medicus (Details anzeigen) über Heim (Details anzeigen). Es konnte mir aber nur zeigen, daß beide Männer auf völlig verschiedenem Boden stehen. Für Med (Details anzeigen). ist eben der Wahrheitsgedanke ein und alles. Heim (Details anzeigen) geht als Naturforscher von der Natur aus. Der große, gewaltige Kosmos| überwältigt ihn. Was ist dagegen der Mensch und das bisschen Geschichte (Vgl. contra: Rickert (Details anzeigen), Grenzen...)! Für Med (Details anzeigen). dagegen ist die Natur nur Nicht-Ich, das Objekt zum Überwinden. Ist die Natur nicht doch mehr? Wo bleibt die Ästhetik?

Aber wie gesagt, ich habe noch immer nicht die Kuhzunft gelesen, obwohl ich sie selbst besitze. F. Büchsel (Details anzeigen) hatte ich für den ersten Tiefinnerlichen aufs Programm gesetzt. Aber da F. Büchsel (Details anzeigen) nun nicht erschienen, ist Tiefinnerlicher, Kuhzunft und alles dahin. Ja, der Tiefinnerliche ist ganz in die Brüche gegangen (o der böse Fr. B. (Details anzeigen)!) Es fand nur ein einziger statt, das war der Examenskaffon von {Fritz Lebsch.} Aber daß er tiefinnerlich war, kann man nicht behaupten, die Hauptsache war das Tiefinnerliche, worin der Inaktive Ritter (Details anzeigen) ein erstaun| liche Fähigkeit bewies. Probleme, Probleme soll ich schreiben! Ja, das ist auch ein Problemm, wenn man merkt, daß man zu dumm, faul und gefräßig zu Problemen ist; bitte hier ist ein sittliches Problem: Was macht man, wenn man merkt, daß man zu dumm zum Studium der Theologie ist?

Übrigens begabt ist Deine Darstellung von der Modernen-Positiven im vorigen Brief. Nur ist mir noch nicht ganz klar geworden, was Seeberg (Details anzeigen) darunter versteht. Du gibst 4 Möglichkeiten der Definition, schreibst aber nicht, was Seeberg (Details anzeigen) meint. Übrigens fällt mir hier wieder Heim (Details anzeigen) ein. Nicht modern oder unmodern, sondern wahr und falsch sind die Gegensätze, schreibst Du sehr richtig; Da wird so recht klar, ein wie trübes Ding| die Heimsche (Details anzeigen) Wissenschaft „ohne Wahrheit“ sein muß.

Die Wissenschaft muß forschen sub specie veritatis. In jeder Zeit wird sie dann zu einem gewissen Resultat kommen. Die Systeme lösen sich ab. Daß sie jedes Mal modern sind, kann nicht künstlich "gemacht werden", das werden sie von selbst, wenn nur ihre Erzeuger in lebendigem Kulturzusammenhang mit ihrer Zeit stehen.

Ein Problem ist, wie es mit dem Wahrheitswert der einzelnen, sich ablösenden Systeme steht. Jeder ist von seinem Sächle ganz überzeugt, aber warte nur balde ruhst auch du, heißts hernach.

Doch genug! Hab vielen Dank für Deinen famosen Brief1 und nimm diesen hier als herzl. gemeinten Neujahrsgruß von Deinem


Fußnoten, Anmerkungen

1Nicht überliefert.

Register

aSchreiber, Hans
bKähler, Martin
cBalke, Hans
dLütgert, Wilhelm
eDickens, Charles
gLocke, John
hRitter, Karl Bernhard
iSchafft, Hermann
jHalle (Saale)
kSchafft, Hermann
lStelz, ???
mZähringer, ???
nHalle (Saale)
oNickelby, C.
pBublitz, Siegfried
qKilger, Albert
rVoget, Johannes
sKilger, Albert
tSpatz, ???
u???, Sepp
vHeim, Karl
wMedicus, Fritz
xHeim, Karl
yMedicus, Fritz
zHeim, Karl
aaRickert, Heinrich
abMedicus, Fritz
acBüchsel, Friedrich Hermann Martin
adBüchsel, Friedrich Hermann Martin
aeBüchsel, Friedrich Hermann Martin
afRitter, Karl Bernhard
agSeeberg, Erich
ahSeeberg, Erich
aiHeim, Karl
ajHeim, Karl
akSchreiber, Hans

Überlieferung

Signatur
USA, Cambridge, MA, Harvard University, Harvard Divinity School Library, Tillich, Paul, 1886-1965. Papers, 1894-1974., bMS 649/183
Typ

Brief, eigenhändig

Postweg
Wittlage - unbekannt
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Brief von Hans Schreiber an Paul Tillich vom 21. Oktober 1907
nächster Brief in der Korrespondenz
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Entitäten

Personen

Orte

Zitiervorschlag

Brief von Hans Schreiber an Paul Tillich vom 31. Dezember 1907, in: Paul Tillich, Korrespondenz. Digitale Edition, hg. von Christian Danz und Friedrich Wilhelm Graf. https://tillich-briefe.acdh.oeaw.ac.at/L00255.html, Zugriff am ????.

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