Brief von Paul Tillich an Hannah Gottschow vom Juni oder Juli 1922

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Der editierte Text

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Liebe ferne Geliebte (Details anzeigen)!

Ich weiß nicht, warum Du mir diese Tage so ferne bist; vielleicht bist Du innerlich mehr bei Deinen Schwestern (Details anzeigen) (Details anzeigen) und Deinem Kind1; vielleicht nimmt Dich die große Müdigkeit immerzu in ihren Schoß, vielleicht liegt es auch an mir, der ich immer mehr in einen Zustand versinke zwischen Absterben und Wahnsinn, nichts hilft mehr, kein Schlaf, kein {Segel}, keine Hoffnung; es ist als ob der Lebensschwung dahin wäre und Leib und Seele die Hülle vergangenen Lebens, die wert sind, auf den Dünger geworfen zu werden. Und ich fühle, Du bist innerlich nicht bei mir... Fast wäre es mit Sylt (Details anzeigen) nichts geworden. Die Frau dort ist an einen anderen Ort gegangen, der etwas vom Meer entfernt liegt; aber ich ziehe nun mit ihr; es ist vielleicht auch besser für die Nerven. Ich fürchte, es ist Dir schwer, daß Margot (Details anzeigen) mitgeht. Noch ist es nicht sicher wegen des Geldes, aber wenn sie nicht kann, müßte ich noch jemand anders suchen, da ich sonst dort ohne Pension nicht {leben}2 könnte. Glaube mir, meine lie| be, in Ewigkeit geliebte Hannah (Details anzeigen), daß kein Augenblick sein wird, wo Du nicht unter uns bist. Zu Dir hin lebe ich, auch in diesen Worten des Absterbens; zu Dir hin will ich an der See wieder aufleben, und nichts anderes will auch sie, als Dir und mir dienen. Ich weiß ja, daß Worte schwach sind gegen Wirklichkeiten und daß ferne Wirklichkeiten die Phantasie belasten. Aber ich bitte Dich: Glaube mir: Es gibt nichts zwischen Dir und mir in der ganzen Welt! – – Gestern Abend ist Frede (Details anzeigen) gekommen zu einer Sitzung; als er heut früh, als ich in Glied und Kopfschmerzen wie immer in meinem Bett lag, meinen Kopf streichelte und alles besser wurde, da dachte ich, wie unendlich viel mir fehlt, an jedem Tage, wo Du nicht da bist. – Im August werden Frede (Details anzeigen) und Trudchen (Details anzeigen) heiraten. Ich habe sehr lange mit beiden gesprochen. Sie sind sich klar über das was es nicht sein kann; und darum wird es für beide manches sein können. Du selbst hast ja damals die Alternative ge| sehen: Heiraten oder Auseinandergehen. Um der Kinder willen, um starker Sympathien willen, um Trudchens (Details anzeigen) willen hat Frede (Details anzeigen) das erste gewählt und glaubt, es wird auf Grund gemeinsamer religiöser und geistiger Fundierung richtig werden. Er leidet unter den Äußerlichkeiten, Schwiegereltern u. s. w. und Trudchen (Details anzeigen) wird es natürlich nicht leicht, daß sie in allem fühlt, die zweite zu sein, aber ich glaube, es ist doch für beide gut, daß sie sich zu einer festen Form und gegenseitigen Verpflichtung entschlossen haben und auch nach außen hin nicht ängstlich zu sein brauchen. Es soll sonst noch nicht beredet werden, aber Dir solle ich es schreiben, und wenn Du willst, kannst Du an Trudchen (Details anzeigen) schreiben. – E. v. Sydow (Details anzeigen) ist diesen Monat hier, er ist auch etwas heruntergekommen und elend, er leidet unter der erotischen Indifferenz, die er seiner Frau (Details anzeigen) gegenüber empfindet. {Er irrt} in Berlin (Details anzeigen) umher und sucht, welche er findet – Ich hab in der letzten Zeit in erotischer Beziehung unerhört qualvolle Wochen durch| gemacht, doch denke ich, daß auch diese letzte Lebensäußerung bald in der allgemeinen Erschöpfung untergehen wird. – Und nun liebes Hannahchen (Details anzeigen), muß ich Dich ein bischen beschimpfen: Du hast doch die Absicht, einen Beruf zu ergreifen, der sich von einer bloßen Maschine dadurch unterscheidet, daß Du selbständig eine Korrespondenz führen willst.3 Wie kannst Du das aber, wenn Du nicht einmal den Brief an Otte (Details anzeigen) schreiben kannst, dessen Inhalt ich Dir schon angedeutet hatte. Ich muß gestehen, daß ich etwas entsetzt war. Du sollst ihm danken, daß er bereit ist, die Korrespondenz zu vermitteln und dich zu beraten, wie er mir meine Sache geführt hat.4 Und Du sollst ihn bitten, an einen Greizer5 Rechtsanwalt zu schreiben, daß er sich bereit halten soll, mit dem {¿¿¿} Rechtsanwalt Deines Mannes (Details anzeigen) in Verhandlung über möglichst schnelle Scheidung einzutreten. Weiter nichts. Das mußt Du können und gleich tun!

Antworte mir auf alles! In vielen Schmerzen
Dein

Paul

Was hast Du mit Elisabeth (Details anzeigen) verabredet?6


Fußnoten, Anmerkungen

1Hannah Tillich hatte am 5. Juni 1922 einen Sohn zur Welt gebracht, der jedoch nur kurze Zeit später sterben sollte. Sie war im Begriff, sich von Albert Gottschow (Details anzeigen), dem Vater des Kindes und Hannahs erstem Ehemann, scheiden zu lassen. Zur Geburt war sie nach Marburg (Details anzeigen) gereist, wo eine ihrer zwei Schwestern (Details anzeigen) Lernschwester im Städtischen Krankenhaus war. Wie Hannah Tillich in ihrer Autobiographie berichtet, reiste sie jedoch bereits kurz nach der Geburt auf Drängen Paul Tillichs zu ihm nach Berlin, wo das Baby bis zu seinem frühen Tod in ein Säuglingsheim kam. (Vgl. Hannah Tillich, Ich allein bin, S. 88f. (Details anzeigen)) Der vorliegender Brief wurde vor jener Berlinreise verfasst.
2Ein Schaden am Scan macht dieses Wort schwer lebar.
3Hannah Tillich (Details anzeigen) nahm zu jener Zeit Stenographie-Unterricht bei ihrem Jugendfreund Uli Fricke (Details anzeigen), um eine Stelle in einem Büro antreten zu können. (Vgl. Hannah Tillich, Ich allein bin, S. 89. (Details anzeigen))
4Gemeint ist Tillichs Scheidung von Greti Wever (Details anzeigen).
5Hannah lebte mit ihrem ersten Ehemann, Albert Gottschow (Details anzeigen), in Greiz (Details anzeigen).
6Notiert auf der ersten Briefseite, am oberen Seitenrand, auf dem Kopf stehend.

Register

aTillich, Hannah
bLisel
cWerner, Marie Luise
dGottschow, Albert
eMarburg
fLisel
gTillich, Ich allein bin. Mein Leben., 1993
hSylt
iHahl, Margot
jTillich, Hannah
kFritz, Alfred
lFritz, Alfred
mFritz (geb. Horn), Gertrude
nFritz (geb. Horn), Gertrude
oFritz, Alfred
pFritz (geb. Horn), Gertrude
qFritz (geb. Horn), Gertrude
rSydow, Eckart von
sSydow, Gertrud von
tBerlin
uTillich, Hannah
vTillich, Hannah
wFricke, Uli
xTillich, Ich allein bin. Mein Leben., 1993
yOtte, ???
zTillich, Margarete
aaGottschow, Albert
abGreiz
acGottschow, Albert
adSeeberger, Elisabeth

Überlieferung

Signatur
Deutschland, Marburg, Philipps-Universität Marburg, Deutsches Paul-Tillich-Archiv, 023 Rollfilm Nr. 3
Typ

Brief, eigenhändig.

Postweg
unbekannt - unbekannt
voriger Brief in der Korrespondenz
Brief von Hannah Gottschow an Paul Tillich vom Juni oder Juli 1922
nächster Brief in der Korrespondenz
Brief von Paul Tillich an Hannah Tillich wahrscheinlich vor Oktober 1922

Entitäten

Personen

Orte

Literatur

Zitiervorschlag

Brief von Paul Tillich an Hannah Gottschow vom Juni oder Juli 1922, in: Paul Tillich, Korrespondenz. Digitale Edition, hg. von Christian Danz und Friedrich Wilhelm Graf. https://tillich-briefe.acdh.oeaw.ac.at/L01563.html, Zugriff am ????.

Für Belege in der Wikipedia

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