Brief von Hannah Gottschow an Paul Tillich vom Juni oder Juli 1922

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Der editierte Text

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Lieber Paul (Details anzeigen)

Ich denke, ich komme sicher am Montag früh nach Berlin wenn ich nur Nachricht von M.L. (Details anzeigen) hätte des Kinderheimes wegen.1 Es wäre so unpraktisch wie möglich wenn ich den Sohn nicht gleich dort abgeben könnte. Mich in Berlin (Details anzeigen) pflegen zu lassen habe ich nicht die geringste Zeit. Mit dem von hier weg gehen bin ich sehr einverstanden, nur darf ich nicht gebrauchsunfähig nach Berlin (Details anzeigen) kommen. Das wäre das Allerverfehlteste was ich machen könnte. Arbeiten will ich und nicht mich pflegen lassen.2 Von Marburger Einflüssen kann wirklich nicht die Rede sein. Ich wünschte du dächtest dir nicht immer einen neuen Einfluss aus von dem du mich abhängig glaubst. Aber ich denke jeder einigermassen vernünftige Mensch muss einsehen dass es Unvernunft in hohem Grade wäre wenn ich halb lahm nach Berlin gekommen wäre. Heute morgen entdecke ich zu meiner grossen Freude dass Anschwellung am Knie weggegangen ist und das ich also bei sorgfältiger Schonung blad werde wieder ziemlich normal sein können und das muss ich, Paul (Details anzeigen), ich brauche meine Gesundheit durchaus für die jetzige Zeit ich kann nicht bloss um zu verabredeten Zeit in Berlin (Details anzeigen) zu sein riskieren dass ich wieder 14 Tage so gut wie hülflos bin.

Und nun leb wohl mein liebster Paul (Details anzeigen) und auf Wiedersehen am Montag. Vielleicht ist dieser Brief ein bischen unfreundlich geworden das kommt von deinen ewigen Einflüssen und wünschte ich, ich könnte anstatt in mein kaltes Bettchen zu kriechen lieber bei dir sein und anstatt dich zu schimpfen dich furchtbar toll liebhaben mit und ohne Einflüsse. Und nun muss ich dir noch beichten dass Erich Dürr (Details anzeigen) zwei Tage hier war mit Gedichten beladen. Er schrieb plötzlich er wolle mich besuchen. Ich schrieb |:daß er nach:| Berlin kommen müsse, das wollte er nicht {inde|:s kam:| die Beingeschichte und nun war er gestern und vorgestern hier und hat nun Verständnis für mein Weggehen bekommen besonders nach dem er ein Portrait von mir gesehen hat dass Albert (Details anzeigen) gemalt} hat und dass mich durchaus nicht trifft. Und ich habe mich gefreut bei der Gelegenheit festzustellen dass ich erotisch tatsächlich nicht mehr von euch Mannsleuten abhängig bin (denn in der Beziehung seid ihr scheinbar alle ein wenig bedarft.) So waren wir also beide sehr artig nicht aus Mangel an Empfindsamkeit sondern von mir aus aus einer bewussten Zurückgeschlossenheit und du weisst ja so sicher es ist dass ein Tor immer willig ist wenn eine Törin will eben so sicher kann der Tor nichts machen wenn die Törin nicht will. Und nun Schluss, vielgeliebter Tor, ich hab dich sehr lieb aber Papierküsse sind nicht das geringste wert und so spar ich mir lieber alles auf bis zu Handgreiflichkeiten oder vielmehr Mundgreiflichkeiten

Auf Wiedersehen
Deine Hannah

Anbei der Brief von M.L. (Details anzeigen)3 woraus du am besten siehst wie die Sache steht. Ich werde an sie schreiben dass alles nur daran hängt dass der Platz im Kinderheim fest wird denn wenn ich in Neukölln wohne hast du wieder so gut wie gar nichts von mir und auch nicht wenn ich eine andere Wohnung in deiner Nähe bekommen sollte um |:mit:| dem Sohn dort zu wohnen. Ich bin in beiden Fällen durchaus gebunden und mit dem Jungen tags in deine Wohnung zu kommen – darauf kann ich mich nicht einlassen – das weisst du

|:Nur, wenn {sich} nichts bis zum 15. findet {an} Kinderheim {¿¿¿ ... ¿¿¿}:|4


Fußnoten, Anmerkungen

1Hannah Tillich hatte am 5. Juni 1922 einen Sohn zur Welt gebracht, der jedoch nur kurze Zeit später sterben sollte. Sie war im Begriff, sich von Albert Gottschow (Details anzeigen), dem Vater des Kindes und Hannahs erstem Ehemann, scheiden zu lassen. Zur Geburt war sie nach Marburg gereist, wo eine ihrer zwei Schwestern (Details anzeigen) Lernschwester im Städtischen Krankenhaus war. Wie Hannah Tillich in ihrer Autobiographie berichtet, reiste sie jedoch bereits kurz nach der Geburt auf Drängen Paul Tillichs zu ihm nach Berlin, wo das Baby bis zu seinem frühen Tod in ein Säuglingsheim kam. (Vgl. Hannah Tillich, Ich allein bin, S. 88f. (Details anzeigen)) Vorliegender Brief wurde im Hinblick auf besagte anstehende Berlinreise verfasst.
2In Berlin nahm Hannah Tillich Stenographie-Unterricht, um eine Stelle in einem Büro antreten zu können. (Vgl. Hannah Tillich, Ich allein bin, S. 89. (Details anzeigen))
3Dieser Brief liegt nicht vor.
4Durch die schlechte Scanqualität des vorliegenden Briefes sind die letzten beiden Zeilen des handschriftlichen Briefzusatzes weitgehend unlesbar.

Register

aTillich, Paul
bWerner, Marie Luise
cGottschow, Albert
dLisel
eTillich, Ich allein bin. Mein Leben., 1993
fBerlin
gBerlin
hTillich, Ich allein bin. Mein Leben., 1993
iTillich, Paul
jBerlin
kTillich, Paul
lDürr, Erich
mGottschow, Albert
nWerner, Marie Luise

Überlieferung

Signatur
Deutschland, Marburg, Philipps-Universität Marburg, Deutsches Paul-Tillich-Archiv, 023 Rollfilm Nr. 3
Typ

Brief, maschinenschriftlich mit handschriftlichem Zusatz.

Postweg
Marburg a. d. Lahn - Berlin
voriger Brief in der Korrespondenz
Brief von Paul Tillich an Hannah Tillich ohne Datum, vermutlich Juli 1922
nächster Brief in der Korrespondenz
Brief von Paul Tillich an Hannah Gottschow vom Juni oder Juli 1922

Entitäten

Personen

Orte

Literatur

Zitiervorschlag

Brief von Hannah Gottschow an Paul Tillich vom Juni oder Juli 1922, in: Paul Tillich, Korrespondenz. Digitale Edition, hg. von Christian Danz und Friedrich Wilhelm Graf. https://tillich-briefe.acdh.oeaw.ac.at/L01565.html, Zugriff am ????.

Für Belege in der Wikipedia

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