Brief von Paul Tillich an Hannah Tillich ohne Datum, vermutlich Juli 1922

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Der editierte Text

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Montag Abend
Geliebte a!

Dein Brief1 heut Abend war mir ein großes Geschenk. Hab' Dank dafür! Ich sehnte mich nach diesem Wort des Verstehens und der Liebe! Und es hat mir eine wunderbare Ruhe gegeben.

Heut Abend schreibt b an Dich, daß Du schon Donnerstag früh kommen sollst, da Du mit dem Kind hier in c in die Wohnung kannst, und jeder Tag, den Du eher da bist, jetzt für die Stelle nötig ist, die wir ganz vernachlässigt haben. Ich unterstütze das und bitte Dich auch darum. Ich halte es sogar für sehr wahrscheinlich, daß wenn Du einmal hier bist, das Heim die Aufnahme des Kindes ermöglicht, wenn man es dringlich macht. Sonst aber – in der Wohnung dicht bei. Es kommt noch etwas Anderes hinzu: d geht zum 1. Oktober, und ich möchte gern wegen der Wiedervermietung, e, Aufwartung etc. mit Dir reden, weil davon abhängt, ob und wie ich wieder vermiete. Auch darin ist jeder Tag gewonnen.|

Aber über alle dem will ich Dir sagen, wie mir zu Mute ist. Ich wage es auf Deinen letzten Brief2 hin, und in dem Gedanken, daß ich Dir, wenn Du mir am allernächsten stehst, auch alles sagen darf: Ich bin am Rande des Abgrundes. Leib und Seele sind völlig zerfetzt. Das Letzte haben die 8 Tage seit vorigem Montag gegeben, wo Dein Brief mit den {Keimen} kam, und dann bis heute Abend das wahnsinnige zermürbende Warten von Stunde zu Stunde, von Post zu Post, von Telephon zu Telephon. Ich lebe völlig außerhalb der Realität, schon seit Juni; f, g, h waren hier; sie gehen an mir vorüber wie Schatten; die Unterhaltung ist mir wie ein Hauchen ins Leere. Ich habe keinerlei Macht darüber, kein Wille kann es ändern; denn es durchdringt alle Nerven und Muskeln. Die See hat es eher verstärkt. Nur war sie oft eine schöne Unwirklichkeit, während alles Jetzige leidvoll und hoffnungslos ist. Und in allen ruft| immerzu eine wahnsinnige Sehnsucht: i sei da und erlöse mich! Ich kann krank und gesund nicht mehr unterscheiden. Ich bin in einer der tiefsten Krisen meines Lebens. Jeder Tag ohne Dich ist nicht mehr Sehnsucht, sondern Qual, einfache sinnlose zerstörende Qual. Du hast mir geschrieben: Wenn es nicht mehr geht, soll ich Dich rufen; Du kommst im Sommer gegen alle Vernunft. Ich habe Dich nicht gerufen. Heut rufe ich Dich, und es ist nicht einmal gegen die Vernunft, sondern mit ihr! Heut sage ich: Komm ehe es zu spät ist! Und es kann eines Tages für lange Zeit zu spät sein! Ich weiß, ich bin krank, aber aus der Krankheit rufe ich Dir als dem Arzte, hilf mir, ich ertrinke! Zögere nicht! – Noch eins, damit Du mich verstehst: Ich habe in meiner Schwermut, besonders nach Deinem Sonnabend-Brief,3 damit gerechnet, daß ich Dich die ersten Tage gar nicht sehen werde. Es war mir gleich, der Gedanke: Du bist hier, genügte mir! Ob eine Stunde, ob| eine Minute, ob gar nicht sehen: Aber hier sein! j, ich bin noch immer klug genug, zu sehen, daß dieses krank ist; aber ich bin es eben; es ist Wirklichkeit, und Du mußt damit rechnen. Und so rufe ich noch einmal: Komm Donnerstag früh! Sei hier, daß meine Fieber mich verlassen; sie hängen an Deinem Wort und Deiner Hand!

Auf alle Fälle eine unbedingte Forderung: Ein sofortiges Telegramm an k! Ich lege Geld bei. Dieses Barmherzigkeit wirst Du mir nicht versagen, selbst wenn Du mir nicht folgen kannst. Dein Bruder4 wird Dich abholen; er soll Euch dann hierher bringen und o führt Euch in Dein Zimmer oder ins Kinderheim.

Geliebte, laß dieses meinen letzten Brief in dieser Leidenszeit sein. Ich habe mich tief vor Dir gedemütigt! Verzeih es einem, der krank ist durch Liebe zu Dir. Komm und heile mich! Komm bald!

Dein p

Fußnoten, Anmerkungen

1Liegt nicht vor.
2Liegt nicht vor.
3Liegt nicht vor.

Register

aTillich, Hannah
bWerner, Marie Luise
cBerlin-Friedenau
eWinkler, Toni
fTillich, Johannes Oskar
gWerner, Marie Luise
hHahl, Margot
iTillich, Hannah
jTillich, Hannah
kWerner, Marie Luise
lWerner, Roland
mWerner, Hellmuth
nWerner, Walter
oWinkler, Toni
pTillich, Paul

Überlieferung

Signatur
USA, Cambridge, MA, Harvard, Harvard Divinity School Library, Tillich, Hannah. Papers, 1896-1976, bMS 721/2(18)
Typ

Brief, eigenhändig

Postweg
Berlin-Friedenau - unbekannt
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Brief von Paul Tillich an Hannah Tillich vom 2. März 1922
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Entitäten

Personen

Orte

Zitiervorschlag

Brief von Paul Tillich an Hannah Tillich ohne Datum, vermutlich Juli 1922, in: Paul Tillich, Korrespondenz. Digitale Edition, hg. von Christian Danz und Friedrich Wilhelm Graf. https://tillich-briefe.acdh.oeaw.ac.at/L01374.html, Zugriff am ????.

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