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Berlin-Friedenau , den 01.01.1922

Geliebte Hannah!

Dein Brief heut Abend war mir ein großes Geschenk. Hab‘ Dank dafür! Ich sehnte mich nach diesem Wort des Verstehens und der Liebe! Und es hat mir eine wunderbare Ruhe gegeben. Heut Abend schreibt M. L. an Dich, daß Du schon Donnerstag früh kommen sollst, da Du mit dem Kind hier in Friedenau in die Wohnung kannst, und jeder Tag, den Du eher da bist, jetzt für die Stelle nötig ist, die wir ganz vernachlässigt haben. Ich unterstütze das und bitte Dich auch darum. Ich halte es sogar für sehr wahrscheinlich, daß wenn Du einmal hier bist, das Heim die Aufnahme des Kindes ermöglicht, wenn man es dringlich macht. Sonst aber – in der Wohnung dicht bei. Es kommt noch etwas Anderes hinzu: Goldberg geht zum 1. Oktober, und ich möchte gern wegen der Wiedervermietung, Toni, Aufwartung etc. mit Dir reden, weil davon abhängt, ob und wie ich wieder vermiete. Auch darin ist jeder Tag gewonnen. | Aber über alle dem will ich Dir sagen, wie mir zu Mute ist. Ich wage es auf Deinen letzten Brief hin, und in dem Gedanken, daß ich Dir, wenn Du mir am allernächsten stehst, auch alles sagen darf: Ich bin am Rande des Abgrundes. Leib und Seele sind völlig zerfetzt. Das Letzte haben die 8 Tage seit vorigem Montag gegeben, wo Dein Brief mit den Keimen kam, und dann bis heute Abend das wahnsinnige zermürbende Warten von Stunde zu Stunde, von Post zu Post, von Telephon zu Telephon. Ich lebe völlig außerhalb der Realität, schon seit Juni; mein Vater, M. L., Margot waren hier; sie gehen an mir vorüber wie Schatten; die Unterhaltung ist mir wie ein Hauchen ins Leere. Ich habe keinerlei Macht darüber, kein Wille kann es ändern; denn es durchdringt alle Nerven und Muskeln. Die See hat es eher verstärkt. Nur war sie oft eine schöne Unwirklichkeit, während alles Jetzige leidvoll und hoffnungslos ist. Und in allen ruft | immerzu eine wahnsinnige Sehnsucht: Hannah sei da und erlöse mich! Ich kann krank und gesund nicht mehr unterscheiden. Ich bin in einer der tiefsten Krisen meines Lebens. Jeder Tag ohne Dich ist nicht mehr Sehnsucht, sondern Qual, einfache sinnlose zerstörende Qual. Du hast mir geschrieben: Wenn es nicht mehr geht, soll ich Dich rufen; Du kommst im Sommer gegen alle Vernunft. Ich habe Dich nicht gerufen. Heut rufe ich Dich, und es ist nicht einmal gegen die Vernunft, sondern mit ihr! Heut sage ich: Komm ehe es zu spät ist! Und es kann eines Tages für lange Zeit zu spät sein! Ich weiß, ich bin krank, aber aus der Krankheit rufe ich Dir als dem Arzte, hilf mir, ich ertrinke! Zögere nicht! – Noch eins, damit Du mich verstehst: Ich habe in meiner Schwermut, besonders nach Deinem Sonnabend-Brief, damit gerechnet, daß ich Dich die ersten Tage gar nicht sehen werde. Es war mir gleich, der Gedanke: Du bist hier, genügte mir! Ob eine Stunde, ob | eine Minute, ob gar nicht sehen: Aber hier sein! Hannah, ich bin noch immer klug genug, zu sehen, daß dieses krank ist; aber ich bin es eben; es ist Wirklichkeit, und Du mußt damit rechnen. Und so rufe ich noch einmal: Komm Donnerstag früh! Sei hier, daß meine Fieber mich verlassen; sie hängen an Deinem Wort und Deiner Hand! Auf alle Fälle eine unbedingte Forderung: Ein sofortiges Telegramm an M. L.! Ich lege Geld bei. Dieses Barmherzigkeit wirst Du mir nicht versagen, selbst wenn Du mir nicht folgen kannst. Dein Bruder wird Dich abholen; er soll Euch dann hierher bringen und Toni führt Euch in Dein Zimmer oder ins Kinderheim. Geliebte, laß dieses meinen letzten Brief in dieser Leidenszeit sein. Ich habe mich tief vor Dir gedemütigt! Verzeih es einem, der krank ist durch Liebe zu Dir. Komm und heile mich! Komm bald!

Dein Paul
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