Der editierte Text

|
Sonntag Vormittag1
Geliebte, viel geliebte b!

Ich wills drauf ankommen lassen, daß Du den Brief nur einmal liest, wie ich manche Deiner früheren. Jetzt freilich ist es anders; jetzt finde ich so viel realen Gehalt in ihnen, daß ich sie erst in mehrfachem Lesen ganz in mich aufgenommen habe. Besonders für Deinen letzten, konkret-anschaulichen2 danke ich Dir sehr.

Ich habe vieles inzwischen erlebt. Meinen Nacht-Bericht über die Kantgesellschaft3 hast Du wohl bekommen. Von c ist nicht viel zu sagen. Der Vortrag war nicht genügend vorbereitet, um für mich selbst ein wesentlicher Fortschritt zu sein.4 Den älteren Leuten in der Versammlung, den liberalen Spießern war er unverständlich, paradox u. drgl., der Jugend, d. h. den sofort von g um sich gruppierten und gedutzten Jugend-Ring-Leuten war er Ausdruck ihres Fühlens; und mehr ist ja nicht nötig.5 Das Finden von j und mir war central und peripherisch zugleich. Was ich das „Unbedingte“ nenne, nennt er „die lebendige Wahrheit“ ein konkret lebendigerer, aber philosophisch weniger scharfer Begriff. Von ihm aus hat auch er das Nein gegen alles Bedingte, das sich absolut setzen will; er hat das vor längerer |:Zeit:| als halb-ekstatischen Durchbruch erlebt, was bei mir Resultat konsequenten, radikalen Denkens war. Er steht deswegen in starker Spannung zu der Kirche und der christlichen Jugendbewegung, die für ihn eben diese „Absonderung“, Selbsterhöhung des Konkreten bedeutet. Und will vor allem den Kampf gegen die kirchlichen Formen und ihre Verknöcherung aufnehmen; wir trafen uns auch darin, daß wir beide aktionistisch sind, während k mehr mystisch-quietistisch ist. Für uns ist das Negative des Unbedingten gegen das Bedingte gerade im aktuellen Kampf gegen die Götzen-Formen konkret. Auch in erotischem Drängen Dingen ist er jetzt so weit; er spricht von seiner Bindung u. s. w. und hat darin auch seine aufgelöste Verlobung prinzipiell aufgenommen. Es scheint als ob seine Braut innerlich unfrei ist; und |:daß:| er seinen asketisch sublimierten Eros auf die Jugend richten kann. Er verstand es andererseits auch, als ich ihm sagte, daß ich vom „Polytheismus“ in dieser Beziehung mich zu der konkreten Bindung hinbewegte, so daß für ihn die konkrete Bindung eine Ein| schränkung, für mich eine Befreiung ist.

Dann kam der Kantvortrag hier.6 m sagte mir, er hätte wie eine Bombe eingeschlagen, und etliche sagten, er wäre wie eine Befreiung gewesen. Andererseits ist n an meinen philosophischen Fähigkeiten irre geworden; es waren auch einige Theologie-Professoren da, o aus p und q aus r. Sie erkannten auch wie ich hörte, die wissenschaftliche Leistung an, fanden mich aber kirchlich unbrauchbar. Meine Stellung kommt jetzt langsam heraus. Sie ist taktisch sehr ungünstig, aber sie hat die Zukunft. Ich fühle jetzt deutlich die Abgrenzung meiner Position nach rechts und links. s, der feine Geheimrat aus dem Wirtschaftsministerium, sagte: alea iacta est, der Würfel ist gefallen, und wenn es auch noch einige Jahre äußere Schwierigkeiten machte, ich müßte j mich jetzt durchsetzen. Es muß also weitergearbeitet werden mit klarem Ziel.

Und dann kam der Sozialistenball; gestern Abend bis heute früh; der Tag gestern sehr unruhig, viel Telephon, t hier als Logiergast. Das Fest hatte für mich principiell das Gute solcher Feste: Ich kann nicht mehr! Man kann zu diesen Dingen nur die Einstellung haben, entweder die Vielheit zu bejahen, wenigstens so, daß man in ihr das Eine sieht; oder die Einheit bejahen; und dann ist es aus. Du warst da; und darum war alles gebrochen; und für das leichte Spiel der Erotik ist jetzt meine Lage zu bitter. Vielleicht geht das wieder, wenn Du da bist, wenn das Fundament neu gelegt ist. Um endlich den reinen Massenrausch, die Orgie zu erleben, dazu war es durch das Lokal und anderes zu steif. Es ist gut, daß mir so die innere Dialektik der Sache in meiner Empfindung das Richtige zeigt. – Am Abend vorher war u zum ersten Mal bei mir seit Weihnachten. Da erlebte ich, daß ich von ihr ganz frei bin. Es ist, als ob mir die Gnade des konkreten Absoluten nun auch im Leben gegeben würde. Ich bin ganz frei für Dich. In mir ist nichts, was nicht auf Dich gerichtet wäre, vom Zittern des Leibes bis zu der göttlichsten Einigung der Seelen: „Auf Dich bin ich geworfen.“

Dein v.

Fußnoten, Anmerkungen

1 Am oberen Rand des Briefes wurde von fremder Hand (wahrscheinlich a) „21 20 (?)“ vermerkt.
2Liegt nicht vor.
3Liegt nicht vor.
4Am 18. Januar 1922 hatte Tillich in der Hannoveraner Sophienschule den Vortrag „d“ gehalten. Dies geschah im Rahmen einer Vortragsreihe über „Kulturerneuerung oder Kulturuntergang?“, die von den „Freunden evangelischer Freiheit“ in gemeinsamer Absprache mit der Hannoveraner Sektion der Kant-Gesellschaft veranstaltet wurde. Siehe hierzu auch die Vortragsankündigung im e (Berlin 1921), S. 509, sowie die rückblickende Vortragsliste der Hannoveraner Ortsgruppe der Kantgesellschaft im f (Berlin 1923), S. 202.
5Der „Hannoversche Kurier“ brachte in der h, 21. Januar 1922, einen von i verfassten Bericht über Tillichs Vortrag: „Der Vortrag des Berliner Privatdozenten der Theologie Dr. Tillich am Mittwochabend in der Aula der Sophienschule behandelte das Thema: Die Religion und die Erneuerung. Die Einstellung des Vortragenden gegenüber dem Thema war insofern völlig radikal, als sie einen scharfen Bruch mit dem bisher üblichen Begriff der Religion voraussetzte. Aber dieser Bruch leitet sich ab von einer ganz neuen Stellung der Religion in unserem gegenwärtigen kulturellen Leben. Die Religion steht gegenüber ihren Angreifern nicht mehr in der Verteidigung, sondern sie ist auf der ganzen Front selbst zum Angriff übergegangen. Das ist aber nur dadurch möglich, daß sie ihren grundsätzlichen Stand nicht innerhalb der Kulturbewegung nimmt, daß sie die verstandesmäßig nicht erweisbare Behauptung wagt, mehr zu sein als ein Erzeugnis des bloßmenschlichen Kreises. Religion ist in doppelter Hinsicht eine Grenze. Sie grenzt, vom Menschen aus gesehen, diesen gegen das Unbedingte, gegen Gott ab, von Gott aus gesehen ist sie die Grenze Gottes gegen den Menschen, des Unbedingten gegen das Bedingte. Darin liegt aber, daß die Frage des Vortragsthemas zum mindesten schief, wenn nicht überhaupt falsch gestellt ist. Denn Erneuerung kann nun nicht mehr bedeuten, daß etwa die Religion aus dem Geist der Zeit erneuert werden müßte oder sie selbst gar von ihrer historisch bedingten Stellung eine Erneuerung der Kultur anstrebe. Sondern Erneuerung kann nur bedeuten, daß die gesamte Kultur und mit ihr die Religion als historische Erscheinung — die charakteristische Religion nach einer Bezeichnung Euckens — wieder die innigste Verbindung sucht mit dem Unbedingten, mit Gott. Aber sie kann eben nicht von sich aus diese Anknüpfung suchen, sondern Gott muß sie zu sich ziehen. Religiös gesprochen ist das Gnade, geschichtsphilosophisch ist es Schicksal, also Wirkungen, die völlig außerhalb der menschlichen Fähigkeiten liegen. Eben darum aber ist eine Deutung der Gegenwart dasselbe wie ein Versuch der Zeichendeuterei, sie ist stets zweideutig, da sie einen absolut sicheren Entscheid über Untergang oder Aufstieg der Kultur nicht geben kann. Weil aber die Erneuerung letztlich vom Unbedingten, von Gott kommt, darum bleibt für den einzelnen nur übrig, sich mit dem Bewußtsein zu durchdringen, mit dem Unbedingten, mit Gott eins zu werden. — Tillichs Vortrag war, philosophisch gesehen, vom Anfang bis zum Ende reinste Metaphysik, aber darum nicht verwerflich, sondern außerordentlich anregend und tiefschürfend. Ein Widerspruch aber scheint mir das Ganze wesentlich zu durchziehen. Wenn, vom Menschen aus gesehen, die Religion für diesen eine schlechthinnige Grenze bedeutet, so ist nicht einzusehen, inwiefern es möglich sein soll, über das, was jenseits der Grenze liegt, Begriffe zu bilden und Urteile zu fällen. Es ist derselbe Widerspruch, der mir auch bei Friedrich Gogarten, mit dem sich übrigens Tillichs Ausführungen weitgehend berühren, entgegengetreten ist. Ich möchte behaupten, daß gerade hier die Gefahr eines Versinkens in einen teilweisen Agnostizismus zu drohen scheint. Aber das ist nicht ein Urteil meiner Gegnerschaft. Im Gegenteil! Tillich ist ein wahrer Revolutionär und einer der fähigsten Geister unter unseren jüngeren Theologen, und ich möchte hoffen, daß alle die Ausblicke seines Vortrages sich bald näher klären und synthetisch zusammenschließen. Und wenn ich behaupte, daß wegen der sehr energischen Konzentration der Gedanken vielleicht die wenigsten der Anwesenden ihn voll und ganz verstanden haben, so ist das kein abfälliges Urteil über Redner und Zuhörer, sondern ein Bekenntnis dazu, daß seine Gedanken der landläufigen Auffassung zuwiderlaufen und doch etwas durchaus Wertvolles und Richtiges enthalten.“
6Am 25. Januar 1922 hatte Tillich vor der Berliner Sektion der Kant-Gesellschaft seinen Vortrag über „l“ gehalten.

Register

aTillich, Hannah
bTillich, Hannah
cHannover
eo.A., Kant-Studien, 1921
fo.A., Kant-Studien, 1923
gSchafft, Hermann
hFrebold, Vortrag Paul Tillich, 1922
iFrebold, Georg
jSchafft, Hermann
kFritz, Alfred
lTillich, Die Überwindung des Religionsbegriffs in der Religionsphilosophie, 1922
mNetter, Emil
nLiebert, Arthur
oSoden, Hans Freiherr von
pBreslau
qProf. Bornhausen
rMarburg
sThurmann, Theodor
tSimons, Hans
uHahl, Margot
vTillich, Paul

Überlieferung

Signatur
USA, Cambridge, MA, Harvard, Harvard Divinity School Library, Tillich, Hannah. Papers, 1896-1976, bMS 721/2(17)
Typ

Brief, eigenhändig

Postweg
unbekannt - unbekannt
voriger Brief in der Korrespondenz
Brief von Paul Tillich an Hannah Tillich von Februar 1921
nächster Brief in der Korrespondenz
Brief von Paul Tillich an Hannah Tillich von November 1921

Entitäten

Personen

Orte

Literatur

Zitiervorschlag

Brief von Paul Tillich an Hannah Tillich Ende Januar 1922, in: Paul Tillich, Korrespondenz. Digitale Edition, hg. von Christian Danz und Friedrich Wilhelm Graf. https://tillich-briefe.acdh.oeaw.ac.at/L01367.html, Zugriff am ????.

Für Belege in der Wikipedia

{{Internetquelle |url=https://tillich-briefe.acdh.oeaw.ac.at/L01367.html |titel=Brief von Paul Tillich an Hannah Tillich Ende Januar 1922 |werk=Paul Tillich, Korrespondenz. Digitale Edition. |hrsg=Christian Danz, Friedrich Wilhelm Graf |sprache=de | datum= |abruf=???? }}
L01367.pdf