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, den 01.01.1920

Geliebte, viel geliebte Hannah!

Ich wills drauf ankommen lassen, daß Du den Brief nur einmal liest, wie ich manche Deiner früheren. Jetzt freilich ist es anders; jetzt finde ich so viel realen Gehalt in ihnen, daß ich sie erst in mehrfachem Lesen ganz in mich aufgenommen habe. Besonders für Deinen letzten, konkret-anschaulichen danke ich Dir sehr.

Ich habe vieles inzwischen erlebt. Meinen Nacht-Bericht über die Kantgesellschaft hast Du wohl bekommen. Von Hannover ist nicht viel zu sagen. Der Vortrag war nicht genügend vorbereitet, um für mich selbst ein wesentlicher Fortschritt zu sein. Den älteren Leuten in der Versammlung, den liberalen Spießern war er unverständlich, paradox u.nd dgl.dergleichen, der Jugend, d.h.das heißt den sofort von HH.ermann Schafft um sich gruppierten und gedutzten Jugend-Ring-Leuten war er Ausdruck ihres Fühlens; und mehr ist ja nicht nötig. Das Finden von Herrmann Schafft und mir war central und peripherisch zugleich. Was ich das „Unbedingte“ nenne, nennt er „die lebendige Wahrheit“ ein konkret lebendigerer, aber philosophisch weniger scharfer Begriff. Von ihm aus hat auch er das Nein gegen alles Bedingte, das sich absolut setzen will; er hat das vor längerer Zeit als halb-ekstatischen Durchbruch erlebt, was bei mir Resultat konsequenten, radikalen Denkens war. Er steht deswegen in starker Spannung zu der Kirche und der christlichen Jugendbewegung, die für ihn eben diese „Absonderung“, Selbsterhöhung des Konkreten bedeutet. Und will vor allem den Kampf gegen die kirchlichen Formen und ihre Verknöcherung aufnehmen; wir trafen uns auch darin, daß wir beide aktionistisch sind, während Frede mehr mystisch-quietistisch ist. Für uns ist das Negative des Unbedingten gegen das Bedingte gerade im aktuellen Kampf gegen die Götzen-Formen konkret. Auch in erotischemDrängen Dingen ist er jetzt so weit; er spricht von seiner Bindung u.s.w. und hat darin auch seine aufgelöste Verlobung prinzipiell aufgenommen. Es scheint als ob seine Braut innerlich unfrei ist; und daß er seinen asketisch sublimierten Eros auf die Jugend richten kann. Er verstand es andererseits auch, als ich ihm sagte, daß ich vom „Polytheismus“ in dieser Beziehung mich zu der konkreten Bindung hinbewegte, so daß für ihn die konkrete Bindung eine Ein| schränkung, für mich eine Befreiung ist.

Dann kam der Kantvortrag hier. Dr. Stetter sagte mir, er hätte wie eine Bombe eingeschlagen, und etliche sagten, er wäre wie eine Befreiung gewesen. Andererseits ist Liebert an meinen philosophischen Fähigkeiten irre geworden; es waren auch einige Theologie-Professoren da, Soden aus Breslau und Bornhausen aus Marburg. Sie erkannten auch wie ich hörte, die wissenschaftliche Leistung an, fanden mich aber kirchlich unbrauchbar. Meine Stellung kommt jetzt langsam heraus. Sie ist taktisch sehr ungünstig, aber sie hat die Zukunft. Ich fühle jetzt deutlich die Abgrenzung meiner Position nach rechts und links. Thurmann, der feine Geheimrat aus dem Wirtschaftsministerium, sagte: alea iacta est, der Würfel ist gefallen, und wenn es auch noch einige Jahre äußere Schwierigkeiten machte, ich müßte mich jetzt durchsetzen. Es muß also weitergearbeitet werden mit klarem Ziel.

Und dann kam der Sozialistenball; gestern Abend bis heute früh; der Tag gestern sehr unruhig, viel Telephon, Simons hier als Logiergast. Das Fest hatte für mich principiell das Gute solcher Feste: Ich kann nicht mehr! Man kann zu diesen Dingen nur die Einstellung haben, entweder die Vielheit zu bejahen, wenigstens so, daß man in ihr das Eine sieht; oder die Einheit bejahen; und dann ist es aus. Du warst da; und darum war alles gebrochen; und für das leichte Spiel der Erotik ist jetzt meine Lage zu bitter. Vielleicht geht das wieder, wenn Du da bist, wenn das Fundament neu gelegt ist. Um endlich den reinen Massenrausch, die Orgie zu erleben, dazu war es durch das Lokal und anderes zu steif. Es ist gut, daß mir so die innere Dialektik der Sache in meiner Empfindung das Richtige zeigt. – Am Abend vorher war Margot Müller zum ersten Mal bei mir seit Weihnachten. Da erlebte ich, daß ich von ihr ganz frei bin. Es ist, als ob mir die Gnade des konkreten Absoluten nun auch im Leben gegeben würde. Ich bin ganz frei für Dich. In mir ist nichts, was nicht auf Dich gerichtet wäre, vom Zittern des Leibes bis zu der göttlichsten Einigung der Seelen: „Auf Dich bin ich geworfen.“

Dein Paul.
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