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Dresden, den 21.6. 28 Elisenstr. 111]

Sehr verehrter Herr Kollege!

Haben Sie herzlichen Dank für Ihren offenen und vertrauensvollen Brief2]! Besonders bewegt hat mich die Frage nach einem möglichen Verhältnis zu Ihrem Herrn Vater. Ich freue mich, dass sie mir Anlass gibt, dem Gefühl der Verehrung Ausdruck zu geben, das ich von jeher für ihn gehegt habe, und das mich veranlasste, häufig, wenn ich in Berlin war, ihn aufzusuchen. Über dieses Persönliche hinaus bin ich ihm sachlich zu grösstem Dank verpflichtet, in erster Linie durch seine mittelalterlichen Arbeiten, die für mich die Grundlage meiner Auffassung des Mittelalters geworden sind, sowohl in meinen geistesgeschichtlichen Kollegs über die mittelalterliche Theologie und Philosophie, als auch in meiner systematischen Beurteilung unserer Lage im Verhältnis zum Mittelalter. Ebenso danke ich ihm die Grundlage meiner Vorlesung über Geschichte der protestantischen Theologie3], insonderheit das Lutherverständnis, in welchem ich mich ihm sehr viel verwandter fühle als Holl auf der einen und Gogarten auf der anderen Seite. Seine Dogmatik ist für mich ein Werk ständiger Benutzung und Auseinandersetzung, besonders in dem grundlegenden Teil, an dem ich jetzt selbst arbeite.

Selbstverständlich bleibt der Unterschied bestehen: Ich bin zuerst durch den kritischen Radikalismus von Troeltsch und dann durch den religiösen Radikalismus von Barth hindurchgegangen, und von da aus muss die Stellung zu den einzelnen Problemen anders aussehen; aber ich glaube, dass in meiner prinzipiellen Stellung, wie ich sie in meinem Brief4] an Deissman geschildert habe, etwas enthalten ist von dem, was Ihr Vater einmal meinte, als er das Programm der 'modern positiven Theologie' aufstellte. Jedenfalls habe ich gefunden, dass er, wie kaum ein anderer unter den älteren Theologen für die modernsten Dinge und Probleme Verständnis hat. In dieser Beziehung bin ich ihm für manche Unterhaltung persönlicher und sachlicher Art immer dankbar gewesen. Ich glaube, dass an diesem Punkt keine Schwierigkeiten entstehen können, und dass der Abbruch der Tradition nicht so gross ist, wie er vielleicht erscheinen könnte, dass er vielmehr dem entspricht, was durch die Geschichte, die unsere Generation erlebt hat an Zerbrechen und Neuanfangen, bedingt ist.

Sehr freudig begrüsse ich Ihre Anfrage bez. der allgemeinen theologischen und kirchenpolitischen Situation. Seit meinem letzten Marburger Semester beobachte ich das Orthodox-werden der Barthischen Bewegung mit steigender Sorge. Es ist mir ein Schmerz, dass die tiefe Erschütterung, die sie auch auf mich ausgeübt hat, sich bei den jüngeren Studenten zum grossen Teil ausläuft in eine neue, höchst unerschütterte und theologisch oft recht ungebildete Orthodoxie. Wenn es möglich wäre, könnte man von hier aus fast Sympathieen zum älteren Liberalismus bekommen. Aber das ist natürlich nicht mehr möglich, und so stehen wir hier vor einer völlig neuen Situation, der wir nicht nur, wie wir es tun, theologischen, sondern irgendwann einmal auch aktiven Ausdruck geben müssen. Ich deutete derartiges auch schon in meinem Brief an Deissman an.

Als ein besonderes Negativum des Barthianismus empfinde ich es, dass er in vielen jüngeren Kräften die sozialethische Initiative gebrochen hat. Auch hier finde ich, dass wir über diese Krisis hinaus die Tradition der älteren sozial-ethischen Arbeit aufnehmen und auf einen durch das Zeitschicksal gebotenen völlig neuen Boden stellen müssen. Das ist ja schließlich der Sinn meiner ganzen religiös-sozialistischen Bemühungen.

Über meine Stellung zur Kirche brauche ich nach dem Brief an Deissman nicht mehr ausführlich zu schreiben. Ich habe dort mein grundsätzliches Ja und meine Auffassung der tatsächlichen Problematik möglichst klar zu Ausdruck gebracht. Ihr Wunsch, mich persönlich kennen zu lernen, entspricht durchaus dem meinen. Ich habe es sehr bedauert, dass wir uns damals nur so kurz sprechen konnten. Falls es für die Berliner Verhandlungen von entscheidender Bedeutung wäre, würde ich natürlich herüberkommen können. Und ich würde Sie dann um rechtzeitige, evtl. telegrafische Benachrichtigung bitten. Meine Dresdener Wohnung ist: Elisenstr. 11 (Tel. 39992). Sie erreichen mich ausser Sonnabend jeden Vormittag bis elf Uhr telefonisch.

Zum Schluss möchte ich Ihnen noch gestehen, dass mich die ganze Angelegenheit ausserordentlich tief bewegt. Die unerwartete Aussicht, an dem Ort meiner physischen, geistigen und seelischen Heimat in den entscheidenden produktiven Jahren meines Lebens wirken zu können, bedeutet ausserordentlich viel für mich. Ich wäre Ihnen darum dankbar, wenn Sie mich gelegentlich über den Fortgang der Verhandlungen benachrichtigen würden.

Mit herzlichem Dank und Gruss
Ihr

H.R. mit Bitte um Kenntnisnahme5]

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    • Tillich, Paul, Vorlesung Geistesgeschichte der altchristlichen und mittelalterlichen Philosophie (Wintersemester 1923/24), veröffentlicht in EW XIII, 407-638; zweite Version der Einleitung, ebd., 639-643 
    • Seeberg, Reinhold, Lehrbuch der Dogmengeschichte. Zweite Hälfte: Die Dogmengeschichte des Mittelalters und der Neuzeit, Erlangen und Leipzig 1898; 2. u. 3. durchweg neu ausgearbeitete Aufl.: Bd. III: Die Dogmengeschichte des Mittelalters, Leipzig 1913; 4. Aufl.: Die Dogmenbildung des Mittelalters, Leipzig 1930 
    • Seeberg, Reinhold, Christliche Dogmatik, 1. Bd.: Religionsphilosophisch-apologetische und erkenntnistheoretische Grundlegung – Allgemeiner Teil: Die Lehren von Gott, dem Menschen und der Geschichte, Erlangen/Leipzig 1924; 2. Bd.: Die spezielle christliche Dogmatik: Das Böse und die sündige Menschheit, der Erlöser und sein Werk, die Erneuerung der Menschheit und die Gnadenordnung, die Vollendung der Menschheit und das ewige Gottesreich, Erlangen/Leipzig 1925 
    • Seeberg, Reinhold, Die Theologie des Johannes Duns Scotus. Eine dogmengeschichtliche Untersuchung (Studien zur Geschichte der Theologie und der Kirche, Bd. V), Leipzig 1900 
    • Seeberg, Reinhold, Die Kirche Deutschlands im neunzehnten Jahrhundert. Eine Einführung in die religiösen, theologischen und kirchlichen Fragen der Gegenwart, Leipzig 1903, S. 308.