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Dresden,1] Elisenstr. 11, d. 23. 6. 26

Sehr geehrter Herr Siebeck!

In diesen Tagen habe ich wie selten die Wahrheit des alten griechischen Wortes erfahren: ὁ πρότερος λέγων ισχύει, wer das erste Wort hat, ist der Stärkere. Es wird mir sehr schwer, Ihnen nach Ihrem letzten Brief, in dem Sie mein Vertrauen zu Ihnen mit Ihrem Vertrauen zu mir beantworteten, zu schreiben, daß die ältere Bindung, die ich nun einmal eingegangen war, sich als die stärkere erwiesen hat. Reichl ist allen meinen Wünschen entgegengekommen, und hat wider mein Erwarten – ich schrieb Ihnen meinen Zweifel – mir die Vorbedingungen ruhiger Arbeit gewährleistet. Unter diesen Umständen war ich sachlich und moralisch gezwungen, ihm die Dogmatik zu geben.

Darüber hinaus liegen die Dinge nun aber so, daß er mich gewissermaßen ganz übernehmen und dafür – wie schon beim Kairos-Buch mit großem Erfolg – sehr gut ausstatten und sehr weitgehende Propaganda machen will.2] Die Vorteile dieser Sache für beide Teile liegen ja auf der Hand. Unter diesem Gesichtspunkt hat er mich teils durch sachliche Gründe teils durch eine moralische Verpflichtung, die ich in früheren Besprechungen mit ihm eingegangen wäre, dazu veranlasst, ihm auch die "Vorträge"3] zu überlassen. Mir ist das sehr schwer geworden, aber ich konnte im Augenblick nichts dagegen machen, wenn nicht die ganze Kairos-Angelegenheit zerbrechen sollte. Die Dinge liegen nun so, dass die "Vorträge" wenn überhaupt, jedenfalls nicht so bald kommen werden, da ich durch die veränderte Finanzlage nun im Stande bin, meine ganze Kraft auf die Dogmatik zu werfen, so daß es auch für Sie im Augenblick kein Verlust ist. Im Übrigen behalte ich mir natürlich für die Zukunft meine Freiheit vor und hoffe, daß wir doch noch zu einer gemeinsamen Arbeit kommen werden, die auch für Sie günstiger ist. Denn – ich möchte das wiederholen – ich habe unbedingtes Vertrauen zu Ihnen und es würde mir nicht einfallen, soweit ich die Wahl habe, zu jemand anders zu gehen.

Mich haben diese Verhandlungen sehr bedrückt... mir viel Zeit und innere Kraft gekostet, und ich bin froh daß sie nun abgeschlossen sind, wenn auch mehr mein Gewissen als mein Herz dabei befriedigt ist. – Die "Dämonen" werden ständig mehr gefördert, und ich hoffe, dass ich Ihnen damit eine nicht unwichtige Sache liefern kann.

Mit bestem, wenn auch etwas betrübtem Gruß
Ihr sehr ergebener Tillich.
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    Personen:

    • Reichl, Otto (Erwähnt als: "gemeinsamen Verleger" zu Tillch, von Goedela Gräfin Keyserling-Bismarck in "1931.11.07. Keyserling-Bismarck, Gräfin G. an Tillich, P.")
    • Siebeck, Oskar (Deutscher Verleger)

    Orte:

    Literatur:

    • Tillich, Paul, Das Dämonische. Ein Beitrag zur Sinndeutung der Geschichte (Sammlung gemeinverständlicher Vorträge und Schriften aus dem Gebiet der Theologie und Religionsgeschichte, Nr. 119), Tübingen 1926 
    • Tillich, Paul (Hg.): Kairos. 1ter Band: Zur Geisteslage und Geisteswendung, Darmstadt Otto Reichl Verlag 1926