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D. 28. Dez. 1917

Mein liebes Wumming!

Vielen herzlichen Dank für das entzückende Weihnachtsgeschenk! Das ist ein Bild, bei dem einem das Herz aufgeht! Wieviel Glück mögen Euch diese beiden kleinen Ungetüme bringen! Zuweilen beneide ich Euch darum; aber vielleicht soll es für mich nicht sein, damit ich ganz der anderen Aufgabe leben kann! – Weihnachten war schön trotz Krieg und Arbeit. Ich habe meinen Baum im Zimmer, darunter stehen außer Deinem Bild ein paar Scherzgeschenke von den Herren, etwas zu knabbern von der Schwiegermutter und Elisabeth, ein prachtvolles Bild von Gerda Witkowsky, mit der ich interessant korrespondiere, ein Dürerbuch (Inselverlag) und – gestern kam es an – eine Krippe mit Figuren von Tonichen! Von Papa kommt noch eine Künstlermonographie. – Es ist nicht unmöglich, daß ich gerade um die Zeit Deines Geburtstages in Bremen bin; doch kann es auch etwas früher sein! Denn vom Februar erwarten wir große Dinge und dann muß ich hier sein. Vielleicht scheitert aber der ganze Urlaub| daran, daß Greti keine Kohlen hat! -- Ich dachte, Fredes Brief1] wäre im Wesentlichen durch den Brief an Emmanuel und den an Euch beantwortet. Vieles läßt sich eben nur mündlich machen! Als ich gestern unter dem Baum saß, kam mir plötzlich mit überwältigender Deutlichkeit der Gedanke, der ja auch keineswegs neu ist, daß alles Lebendige, Ringende, Fortschreitende, Geistvolle, Tiefe, Anziehende, außerhalb dessen liegt, was man "Gemeinde" und Kirche nennt: Wo sind die großen fortstrebenden Motive der Ethik? Bei der russischen Revolution und der deutschen Sozialdemokratie einerseits, bei Nietzsche und den tieferen Künstlern andererseits. Freilich, sie sind alle auf christlichem Boden gewachsen, Trotzky und Nietzsche, Ibsen und Verhaeren, aber wie fern stehen sie dem, was wir Gemeinde nennen! Wir leben eben seit 1700 in einer Epoche der Kirchengeschichte, die sich schlechterdings von den vorigen unterscheidet; man muß sie nur erfassen und ganz bejahen!

Dein Paul.
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    • Waldmann, Emil, Albrecht Dürer, Leipzig 1916.