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D. 27. Nov. 1916.

Liebe Maria!

Vielen Dank für Deinen Brief! Er gab mir ein dunkles Bild von dem, was Du tust und bist. "Dunkel nicht nur für mein Wissen, sondern auch nach dem was ich von Dir weiß" – wie Loofs in seiner Kirchengeschichte so "schön" sagt. Dunkel ist mir vor allem der eine Punkt, Dein Verhältnis zu Hans, das in irgend einer Weise zu Ende zu sein scheint, wie kann ich nur ahnen. Es tat mir sehr leid um Dich, als ich es damals aus Deinem Brief herauslas, aber ich hatte den Gedanken: Es soll so sein, sie hatte sich zu fest daran gehängt, darum mußte es ihr genommen werden, damit sie frei wird. Warst Du frei geworden? Ich glaube, noch nicht ganz. Denn Resignation ist auch eine Art der Unfreiheit. | In jeder Resignation ist Bitterkeit. Wir müssen uns aber hüten, in dieser Zeit bitter zu werden, wie die meisten. Freilich kann ich eine empirische Hoffnung nicht verkündigen, tue es auch meinen Leuten nicht; auch mir selbst nicht. Ich habe sie, aber ich hänge mich nicht daran. Ich reiße mich jeweilig unter Schmerzen davon los. Ich habe immer die unmittelbarste und stärkste Empfindung in mir, nicht mehr eigentlich im Leben zu stehen; darum nehme ich mich auch nicht so wichtig! Einen Menschen finden, fröhlich werden, Gott erkennen, das sind alles Sachen des Lebens. Aber das Leben ist ja selbst kein Boden, | der tragfähig ist. Nicht nur, daß man jeden Tag sterben kann, Du auch, sondern, daß alle sterben, wirklich sterben, diese unerhörte Tatsache, die jetzt tägliches Erlebnis ist ... und dann das Leiden der Menschen ... ich bin reinster Eschatologe, nicht daß ich kindliche Weltuntergangsfantasien hätte, sondern daß ich den tatsächlichen Weltuntergang dieser Zeit miterlebe. Fast ausschließlich predige ich "das Ende". Du willst noch nicht das Ende, ich auch nicht, aber ich muß es wollen weil es da ist. Du siehst noch etwas in der Welt, und wäre es Gotteserkenntnis, eine ganz "weltliche" Sache! Du hast | auch viel erlebt, aber Du bist nicht über Leichenfelder gegangen, wirkliche und seelische! Wir wollen doch etwas neutestamentlicher empfinden und mit Fröhlichkeit auf das "Ende" warten und überzeugt sein, daß die Welt im Argen liegt und unser Bürgertum im Himmel ist. ..

Das ist so die "Dominante" meiner Psychologie. Sonst bin ich bald fröhlicher, bald trauriger, je nach den Umständen. Jetzt sind wir in ruhiger Stellung und ruhiger Arbeit. Nebenbei erhole ich mich durch Aufkleben von Bildern und wissenschaftlichen Untersuchungen über das System der Wissenschaften. ..

Grüße Deinen Vater und danke ihm für die Postkarte1] mit den Versen, und grüße Mutti und Elisabeth und die andern drei, an die ich so oft denke!

Dein
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    Personen:

    Literatur:

    • Loofs, Friedrich, Grundlinien der Kirchengeschichte: in der Form von Dispositionen für seine Vorlesungen, Halle a.S. 1901.