Brief von Paul Tillich an Marie Tillich und Margarete Tillich vom 27. Juni 1915

Zum TEI/XML DokumentAls PDF herunterladen

Der editierte Text

|
Juvigny (Details anzeigen) d. 27. Juni 1915.

Mein liebes Großmütterlein (Details anzeigen), liebe Tante Grete (Details anzeigen)!

Zwei großer Sünden bin ich mir inzwischen bewußt geworden, zweier Sünden, die ich zwar immer wieder bereue, aber auch immer wieder begehen werde, da es eine Besserung für sie nicht gibt: daß ich Eure Geburtstage vergessen habe... aber so groß ist meine Verderbnis an diesem Punkt, daß ich an Papas (Details anzeigen), Tonis (Details anzeigen), Johannas (Details anzeigen) und Elisabeths (Details anzeigen) Geburtstage nur dadurch erinnert wurde, daß ich pünktlich 3 Tage vorher eine Nachricht bekam: Also nun schreibe Deinen Geburtstagsbrief an mich! Als vorsichtige Leute hättet Ihr das auch so machen sollen, dann wäre pünktlich die Antwort gekommen... na [sic!] nächstes Jahr, wenn wir hoffentlich 20 km näher an Paris (Details anzeigen) stehen, macht Ihrs so....

Aus meinen Briefen (Details anzeigen) (Details anzeigen) werdet Ihr ersehen haben, daß es mir schloßherrlich geht: Ich habe ein Château zur Wohnung, einen Salon, ein mit Kunstgegenständen volles Wohnzimmer, ein gemütliches Schlaf- und ein glänzendes Stu| dierzimmer, alles in denselben 4 Wänden zwar aber doch selbständig organisiert; meine Aussicht ist ein herrliches Waldtal, an dessen anderem Ende zuweilen Granat-Wölkchen in die Luft steigen. Trete ich aus meinem Zimmer, so komme ich auf einen langen weißen Gang, am Ende ein Ölbild; an den Seitenwänden Reproduktionen deutscher Holzschnitte. Unten steht mir zur Verfügung ein Eß-, ein Klub- und Rauch- und Schach- ein Billardzimmer, dazu Telephon, Telegraph u. s. w. Ich habe einen Koch, einen Diener (Bursche Schröder (Details anzeigen), ganz ausgezeichnet!), ein Reitpferd, einen Selbstfahrer, für weitere Fahrten zuweilen ein Auto; ich wandle auf der Schloßterrasse; gehe spazieren auf den Schattenwegen des alt-romantischen Schloß-Parks etc..... Was willst Du mehr, hochstrebendes Herz?

Ich will Euch sagen, was ich noch mehr will: Im Autobus Nr. 14 in der Lindenstr. einsteigen nach langem| vergeblichen Warten, die Nase voll Benzin, mich schütteln und rütteln lassen, am Alexanderplatz hinstürmend zwischen einer Wagenstockung ein Billet nach Friedrichshagen (Details anzeigen) nehmen, in einem Koupée III Klasse als 17ter zwischen den Bänken stehen, Geruchsorgien in Schweiß und Kohledreck feiern, in Friedrichshagen (Details anzeigen) eilends die große Treppe heruntersausen mit mehreren Rempelungen, rechts um die Ecke biegen und dann links Nr. 15 eine enge Holztreppe hinauf herzklopfen; der Großmama (Details anzeigen), die erschreckt ist, weil der Kaffeetisch noch nicht gedeckt ist, in die Arme fallen, dann Gretsch (Details anzeigen), die hinzukommt, einen erheblichen Kuß aufdrücken, Kaffee trinken in unsäglichen Quantitäten, Kuchen essen... dann Großmama (Details anzeigen) in die Elektrische setzen und mit Gretsch (Details anzeigen) im Schnellschritt wieder nach Bellevüe... eine Wasserfahrt, „{mang}1 die Badenden“... haarige Wassergreise steigen auf, Gretsch (Details anzeigen) schreit und schirmbeschwingt eilt das Boot nach dem schützenden Hafen zurück, wo Groß| mütterlein (Details anzeigen) uns längst aufgegeben hat.. und dann erzähle ich von meinem ersten Kolleg in Halle (Details anzeigen) und von dem großen Erfolg, daß zu dem 11ten Studenten sich ein 12ter hinzugefunden hat... und dann entwickle ich die Grundlagen meiner Religionsphilosophie, Großmütterlein (Details anzeigen) staunend und grinsend, Gretsch (Details anzeigen) es höchst interessant findend.... und dazu der See und die Schiffe und die Musik und die kalte Platte und das Dunkle... und der Hauch der alten Liebe und des Vertrauens und der Heimat, die mir doch Heimat ist, trotzdem sie die künftige Hauptstadt der Welt sein wird... ach Großmütterlein (Details anzeigen), ach Gretsch (Details anzeigen), „ich gäb mein Schloß und gäb mein Pferd und meinen Diener auch.... was ist so groß, was ist so wert, wie alter Liebe Hauch?“

Daß es mir äußerlich gut geht und daß meine Sehnsucht nie aufhört, und daß auch Ihr zu denen gehört, nach denen ich mich ganz besonders sehne... das soll Euch dieser Gruß aus Frankreich (Details anzeigen) sagen.

In alter Liebe und Treue!

Euer

Paul (Details anzeigen).


Fußnoten, Anmerkungen

1mang: niederdeutsch für zwischen, unter.

Register

aJuvigny (Aisne)
bTillich, Marie
cTillich, Margarete
dTillich, Johannes Oskar
eWinkler, Toni
fFritz, Johanna
gSeeberger, Elisabeth
hParis
iBrief von Paul Tillich an Johannes Tillich vom 28. Mai 1915
jBrief von Paul Tillich an Johannes Tillich vom 31. Mai 1915
kSchröder
lBerlin-Friedrichshagen
mBerlin-Friedrichshagen
nTillich, Marie
oTillich, Margarete
pTillich, Marie
qTillich, Margarete
rTillich, Margarete
sTillich, Marie
tHalle (Saale)
uTillich, Marie
vTillich, Margarete
wTillich, Marie
xTillich, Margarete
yFrankreich
zTillich, Paul

Überlieferung

Signatur
USA, Cambridge, MA, Harvard University, Harvard Divinity School Library , Tillich, Paul, 1886-1965. Papers, 1894-1974, bMS 649/193(21)
Typ

Brief, eigenhändig

Postweg
Juvigny - unbekannt
nächster Brief in der Korrespondenz
Brief von Paul Tillich an Marie Tillich und Margarete Tillich vom 18. Dezember 1915

Entitäten

Personen

Orte

Briefe

Zitiervorschlag

Brief von Paul Tillich an Marie Tillich und Margarete Tillich vom 27. Juni 1915, in: Paul Tillich, Korrespondenz. Digitale Edition, hg. von Christian Danz und Friedrich Wilhelm Graf. https://tillich-briefe.acdh.oeaw.ac.at/L00442.html, Zugriff am ????.

Für Belege in der Wikipedia

{{Internetquelle |url=https://tillich-briefe.acdh.oeaw.ac.at/L00442.html |titel=Brief von Paul Tillich an Marie Tillich und Margarete Tillich vom 27. Juni 1915 |werk=Paul Tillich, Korrespondenz. Digitale Edition. |hrsg=Christian Danz, Friedrich Wilhelm Graf |sprache=de | datum=27.06.1915 |abruf=???? }}
L00442.pdf