Liebe Maria!
Ich kann nicht umhin, Dir zu Deinem letzten Brief meine höchste Anerkennung
auszusprechen; noch über keinen habe ich mich so gefreut wie über diesen; es war
ein kräftiger Keim von dem darin, was ich Dir so oft unter Damenhaftigkeit,
Stolz, Zurückhaltung u. drgl. gröblich ins Gesicht geworfen habe. So gefällst Du
mir am meisten, und so betrachte ich unsere kommende wirkliche, d. h. aktuelle
Freundschaft im Unterschied von der potentiellen, zwar seienden, aber noch nicht
verwirklichten dieser Übergangszeit. Ich hatte Dich lieb als
originelles Mädel, das eines Tages die Augen öffnete und mit Staunen in die
Welt guckte und der ich hier und da, besonders auf dem Gebiet das für
kleine Kinder Verboten war, eine Tür zu öffnen mir das Vergnügen
machte, zumal ich ein lebhaftes Interesse an der künftigen
rechtmäßigen Entwicklung der Lichtenrader
Pfarrerstochter hatte; daß ich |
dabei nicht merkte,
wie ich selbst auf einmal selbigem ungeschlachtem, reizendem Kinde die "Welt" wurde, lag allein an meiner Harmlosigkeit, die ich in
Frauensachen schon einige Male an den Tag gelegt habe. Außerdem gefiel mir das
Mädel wirklich so gut, daß ich nicht gern ein Bruch vollzogen hätte
und es erst tat, als ich mußte … So das ist die Geschichte von dazumal wie ich
sie sehe, d.h. von mir aus ebenso harmlos wie töricht, von Dir
aus ebenso ernst wie tragisch … Nun kamen die Zwischenzeiten,
wo Radikalismus Pflicht war;d ich sah ein, daß unser
Verhältnis auf einerGr
andern Grundlage wieder erneuert werden mußte. Und so kam meine
Heirat und Deine Liebe, die erste Bedingung, dann Dein Studium mit der inneren
und äußern Freiheit, die es Dir hoffentlich bringt, die zweite
Bedingung, und nun kann sich Deine Selbständigkeit entwickeln, bis die neue
Basis völlig da ist, darauf habe ich |
gewartet und freue mich, daß es
nun soweit ist … noch nicht genug, aber so, daß in mir der ernsthafte Wunsch
lebt, nicht von Dir zu lassen, und die Gewißheit, daß wir noch
eine wertvolle Gemeinschaft werden haben können. Und nun
entschuldige, daß ich mit grotesk-landsknechthafter Ehrlichkeit Dir das alles so
sage; und Dich so etwas zum Objekt in dieser Geschichte mache, aber vielleicht
ist das mal das Beste; Du hast mich ja
zu meiner Freude auch objektiviert, bis zur "Wut" gg mich ... über
die ich mich im allertiefsten Grunde freue, weil ich hoffe, daß sie Übergang ist
– – – Deine Studien interessieren mich natürlich sehr; aber ich bin jetzt jeder
intellektuellen Sphäre so fern gerückt, daß ich einfach nichts dazu sagen kann;
ich müßte, glaub ich, erst mal wieder ein Jahr hören, ehe ich lesen kann. – Viel
interessanter ist mir eigentlich Dein Leben; ich fand es schade, daß Du die
Student|
innen und Studenten nicht sehr schätzt; äußerlich und als
Masse betrachtet mag das stimmen, aber Du solltest Gelegenheit suchen, mal eine
einzelne oder einen netten Kreis kennen zu lernen, um aus der Tretmühle des
Lichtenradener Idylls herauszukommen, wonach Du Dich ja selbst oft gesehnt hast
... und Deine Liebe darf Dir nicht ein Kloster werden. Sonst kannst Du das nicht
sein, was Du sein mußt, und wozu Du fähig bist. Du mußt hinaus ins große Leben – gesellschaftlich, intellektuell, moralisch, Du mußt die
engen Pfarrhauswände und Lesehallendämmerung zersprengen und die Bogenlampen
abwechselnd mit der Sonne Dir aufs Haupt scheinen lassen, besonders aber die
Bogenlampen.