Der editierte Text

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a, d. 22 Feb. 1915
Liebe b!

100 000 Russen und zwei Abiturientinnen-Studentinnen auf einen Tag.1 Hurrah!! Meine herzlichsten Glückwünsche und uneingeschränkte Freude! (So lange habe ich gewartet mit Antworten auf Deinen Brief2, denn alles, was ich geschrieben hätte, wäre überholt gewesen. Trotzdem hat er mir sehr viel Freude gemacht; denn er drückt so vortrefflich die Seele meiner kleinen – oder nun großen – Freunde aus, daß ich gar nicht wüßte, wie ich besser in besagte Seele hineinblicken sollte; das ist sehr nett von Dir, liebes Mädel,3 und fordert natürlich die Gegenseitigkeit, wie Du nicht unrichtig bemerkst. Nun ist freilich ein alter Mann, wie ich hier geworden bin, nicht von Ferne so interessant, wie ein junges Mädchen... und darum sollst erst Du, dann ich dran kommen.)

Daß Du ganz meinem Rat entsprechend Litteratur [sic!] , Philosophie, Theologie studieren willst und zwar mit dem ernsthaften Ziel, den Oberlehrer zu machen, freut mich sehr! Ich bitte Dich aber wirklich, die Sache vom ersten Semester ab ernst zu nehmen, sonst hast Du keine Frucht davon. Wofür man sich nicht innerlich ganz einsetzt, was man nur als Beschäftigung betreibt; ist unergiebig und befriedigt nicht; vor allem aber ist ja der harte Zwang da, dem Du ins Auge sehen mußt, daß Du äußerlich oder innerlich – was auch möglich ist, glaub’ es mir – den verlierst, den Du liebst. Und endlich noch ein Drittes: Du brauchst ganz besonders ein Rückgrat Deines Stolzes und das kann einem Mädchen nur das Bewußtsein geben: Ich kann auch allein bleiben; ich brauche niemand, auf den ich warten muß! Also laß in keinem Augenblick in Dir das Be| wußtsein pro forma aufkommen; in demselben Augenblick ist Deine ganze Studentenzeit verloren und Du innerlich dauernd unglücklich. Das heißt natürlich nicht: Oxen [sic!] ! Sondern das heißt, Dich in der Sphäre der geistigen Freiheit intellektuell und persönlich bilden, Beruf und Geistesleben harmonisch zu verschmelzen, weder beruflosen Geistreichtum, noch geistloses Berufswissen sich aneignen. Die Grundlage dazu ist das philosophische Denken, das die Dinge von einer Einheit her betrachten lehrt und so den Beruf als notwendiges Glied im Ganzen erscheinen läßt. Das klingt alles etwas Professörlich, ist aber nur der Ausdruck meiner eigenen akademischen Erfahrung und der unendlichen Dankbarkeit, mit der ich auf diese Zeit zurückblicke.

Viel schwieriger ist die andre [sic!] Seite der Sache nämlich, die persönliche; Du wirst in Deiner ganzen akademischen Zeit und noch später hinaus ein großes Problem haben, und das ist die Intensität Deines persönlichen Glücksbedürfnisses; das was ich oft Egozentrismus genannt habe. Auch aus Deinem Brief spricht das in überwältigender Offenheit. Du meinst, das was Du mit i zu sprechen hast, sei so wichtig, daß die Vorsehung darum besondere Wege gehen müsse. Du willst die Faustischen Erlebnisse haben und doch glücklich sein... aber, beste Freundin: das wahre Erleben hat seine Wurzeln im Schmerz und das Glück ist nur eine Blüte, die sich dann und wann öffnet! Dein Wort, Du seist nicht für das Glück geschaffen, ist nur der negative, an sich selbst im Grunde nicht glaubende Ausdruck Deiner ungestümen Glücksforderung. Ich weiß, daß diese meine Worte keine Änderung bewirken können; sie sollen es auch nicht; im Grunde freue ich mich an Deiner| Leidenschaft und Deinem Lebenswillen, der bis zur großen Schuld gehen will; um zu erleben! Ich kenne diese Empfindung; namentlich um der Tiefe des religiösen Lebens willen, habe ich selbst ähnliche Wünsche gehabt. Ich will auch nicht, daß Du irgendwo Halt machst aus philiströsen Rücksichten; und selbst wenn die große Schuld in Dein Leben einträte, würde ich Dich unbedingt bejahen und gerade dann! Aber ich will, daß Du eines Tages, wo Du statt des Glückes den Schmerz erlebt hast, an meine Worte denkst und nicht verzagst und nicht ironisch wirst, sondern merkst, daß nun überhaupt erst das wahre tiefe Erleben anfängt, da nämlich, wo der egozentrische Glückswille zerbrochen ist.

Du fragst nach mir: Nun ich kann nur sagen, daß das was ich eben geschrieben habe, der Ausdruck meines gegenwärtigen tiefsten Erlebens| ist. Es ist die Zeit des "vollendeten Schmerzes". Du kannst nicht ganz verstehen, welche Faktoren dabei mitwirken; einen nennst Du selbst, die geistige Einsamkeit, die innere Isoliertheit, die Öde, und Ferne alles dessen was man liebt. Dazu der Schrecken des Krieges; der eigene Tod, der oft genug nah gerückt wird, das tägliche Sterben ringsherum und die Dunkelheit der Zukunft, dazu einige weittragende Einsichten, die sich daraus entwickeln.

Deinem j habe ich vor ein paar Tagen für die schönen Gedichte gedankt. k meine herzlichsten Glückwünsche! Was und wo studiert sie? Dir alles Gute und Beste für die großen kommenden Jahre!

Euch allen viele Grüße!
Dein Freund l.

Fußnoten, Anmerkungen

1Anspielung auf die Winterschlacht in c zwischen dem 7. Februar und dem 22. Februar 1915. Die Schlacht an der Ostfront (d, heutiges e) gilt als ein (Teil-)Sieg der deutschen über die russischen Truppen (ca. 56000 Tote, Verwundete und Vermisste und ca. 100000 Gefangene auf russischer Seite; ca. 16200 Tote auf deutscher Seite.)
2Liegt nicht vor.
3Die Unterstreichungen in diesem Brief sind wahrscheinlich nicht von f selbst, sondern von g und heben Komplimente, Ratschläge und Ansprüche h an sie hervor.

Register

aBieuxy
bRhine, Maria
cMasuren
dOstpreußen
ePolen
fTillich, Paul
gRhine, Maria
hTillich, Paul
iChristiansen, Hans
jKlein, Ernst August Ferdinand
kKlein, Lisa
lTillich, Paul

Überlieferung

Signatur
USA, Cambridge, MA, Harvard University, Harvard Divinity School Library, Tillich, Paul, 1886-1965. Papers, 1894-1974, bMS 649/178(7)
Typ

Brief, eigenhändig

Postweg
Bieuxy - unbekannt
voriger Brief in der Korrespondenz
Brief von Paul Tillich an Maria Klein vom 11. Januar 1915
nächster Brief in der Korrespondenz
Brief von Paul Tillich an Maria Klein vom 11. Juni 1915

Entitäten

Personen

Orte

Zitiervorschlag

Brief von Paul Tillich an Maria Klein vom 22. Februar 1915, in: Paul Tillich, Korrespondenz. Digitale Edition, hg. von Christian Danz und Friedrich Wilhelm Graf. https://tillich-briefe.acdh.oeaw.ac.at/L00423.html, Zugriff am ????.

Für Belege in der Wikipedia

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L00423.pdf