Brief von Paul Tillich an Margarete Tillich vom 18. Februar 1915

|
Bieuxy, d. 18. Febr. 1915.

…denn nach Osten sehnt ich mich von Jugend auf,
Wo die weiten Ebnen Wehmut hauchen,
Wo im Abenddunst die Moore rauchen,
Wo die Sonne glühend anfängt ihren Lauf!

Weiß des Meeres. Welle an das Ufer schäumt,
Und ich stand zu stürmisch dunklen Zeiten,
Blickte sinnend in die düstren Weiten, lb/>Hab im Osten die Unendlichkeit geträumt.

Traum des Denkens, Sehnsuchtsziel der Phantasie,
In das Grenzenlose zu entfliehen,
In das Unbekannte fortzuziehen:
Jetzt kann dir Erfüllung werden oder nie!

Denn im Osten geht jetzt auf ein neuer Tag
Kalt und blutrot seine ersten Stunden,
Auf den Schneegefilden tausend Wunden,
Blut und Morgenrot: der Weltgeschichte Schlag!

Doch wir liegen traurig stumm in Lehm und Kot
Hier im Westen, werden ernst und alt,
Denn des Sonnenuntergangs Gewalt
Hüllt vergangnen Tag in Dämmerung und Tod.

|

Laßt mich fliehn aus der Verwesung feuchtem Dunst,
Aus der alten Schönheit Trümmerstätte,
Von der Wache an dem Sterbebette,
Laßt nach Osten mich, gewährt mir doch die Gunst!

Wo die eisgen Winde mich umbrausen toll,
Wo wir ostwärts, immer ostwärts ziehen,
Und die Feinde und die Schwermut fliehen,
Und des Grenzenlosen unsre Seele voll!

So laßt mich hin, und gehts vorbei an Eurem Haus,
Großmutter, blick heraus, ich will Dir winken,
Doch keine Träne soll im Aug‘ Dir blinken
Nach Osten geht es ja, ins Morgenrot hinaus!

P.T.

Das, Ihr Lieben, ist meine und vieler, der meisten, Stimmung. Wenn eine Gelegenheit wäre, mit einem mürben Russen-Kämpfer zu tauschen, wenn für neue Formationen alte Kräfte gebraucht werden – ich bin jederzeit bereit und froh! Und die Strapazen sind ein frischer Wind, der Leib und Geist lebendig macht. Schickt das Gedicht an Papa; wenn er eine Gelegenheit findet, bitte ich ihn, sie beim Schopfe zu fassen… denn nach Osten u.s.w. Es grüßt Euch herzlich und dank Dir für Brief und Karten

Dein alter Neffe
    Entität nicht im Datensatz vorhanden

    Personen:

    Orte: