Der editierte Text

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a, d. 9. März. 1915
Lieber b!

Daß Ihr schon drei Wochen keine Nachricht habt, kann ich mir kaum denken; habt Ihr die Briefe nicht bekommen, die ich an c geschrieben habe; sonst fordert sie nach! Aber möglich ist es schon, daß man drei Wochen vergehen läßt und weiß nicht, wo sie geblieben sind. Es liegt daran, daß hier der Krieg seit dieser Zeit vollständig aufgehört hat. Die Franzosen haben ihre Batterien scheinbar größtenteils in die d gezogen; oder kriegen keine Munition; jedenfalls schießen sie nicht. Wir ebenso wenig; so ist alles ruhig und gleichmäßig. Ein Tag vergeht wie der andere, nichts hebt ihn heraus; es ist alles ein großes Warten, ein Warten auf den Osten und seine Entscheidungen; aus dieser Stimmung heraus kam meine Sehnsucht nach dem Osten;1 es war natürlich mehr poetisch als ernst gemeint; selbstverständlich wird hier ausgehalten, bis man abberufen wird. Aber es ist viel schwerer als Ihr denkt für alle, Offiziere wie Mannschaften. Der Aggressivgeist, der über alle Strapazen hinweghilft, schläft ein; wohin man kommt, die sehnsüchtige Frage: Herr Pfarrer wird es bald Frieden geben? Entbehrungen und Strapazen sind viel leichter zu ertragen als diese schlechthinnige Passivität in feindlichem Artilleriefeuer. Stell Dir vor unsere Regimenter 27 und 36, die g besetzt halten in 12 tägigem Wechsel. Monatelang wußten sie ganz genau, daß von denen die herein gingen etwa 50 nicht gesund herauskamen; die meisten schwer verwundet, viele tot, viele leicht verwundet, einige krank; Nachts ziehen sie oft durch h bei der Ablösung. Dunkle graue Reihen mit hier und dort blitzenden Taschenlampen, ein dumpfes Murmeln, Warten, dann weiter, in ¾ Stunden kann schon der erste {durch} einen Feuerüberfall hinweggerafft werden. Und wenn sie heraus kommen,| blaß, mager, grau das Gesicht, lehmbraun der Anzug, viele verlaust, alle hustend, daß die Stimme des Redners kaum durchkommt. Ein stilles wunderbares Heldentum, von dem wenig gesprochen wird, und das doch alles andere überragt.... und dann hinten in den großen Orten, in den Kapuas2 unserer Armee, der Gegensatz: Weib und Wein, die untätige Ruhe, die groteske Langeweile, die Kleinlichkeit und andere üble Geister; wir ragen nur mit wenig Dörfern bis an die Grenze dieser Zone; aber schwer genug ist es, plötzlich aus der Sphäre des Heldentums in der der Zote zu sitzen. Und mancher traurige Gedanke für die Zukunft wird lebendig. Die Größe des Krieges, das Begeisternde, Fortreißende der ersten Wochen, der Kämpfe im Osten, fehlt; so wird das Kleine und Drückende, die ganze Last und Negativität des Krieges offenbar.

Ich habe ja meine Arbeit, und wenn ich einen schönen Gottesdienst habe, ist alle Traurigkeit fort vor dem Wehen des Gottesgeistes von Herz zu Herz; nicht immer, lange nicht immer ist es so, oft infolge von Äußerlichkeiten, aber doch noch oft genug; schwer dagegen ist die Vorbereitung; der Gedankenkreis ist außerordentlich beschränkt; die Rücksicht auf das Militärische, Vermeiden jedes negativen Tons wegen der Offiziere notwendig, auch sachlich z. T. begründet, die Redezeit etwa 12 Min. Einiges ist unendlich wirksam; und es ist die Aufgabe, das Wenige in unendlicher Variation zu wiederholen. Ich möchte jetzt nirgends anders sein als an der Front, aber daß wir den Schmerz des Krieges in dieser Zeit so real an uns selbst erleben, wie irgend einer in Wunden und Krankheit, das glaubt nur! Und das ist ja gut so im letzten Grunde. Das ist das eigentliche Kriegserleben, nicht äußere Eindrücke, wie ich es mir gewünscht hätte! Und das gibt uns den wahren Predigtstoff!

Körperlich geht es mir dauernd gut. j Paket ist noch nicht da. Wenn ich mal länger nicht schreibe, liegt es an äußerem Erlebnismangel.

Leb wohl und sei vielmals gegrüßt
von Deinem k!

Fußnoten, Anmerkungen

1e Bemerkung bezieht sich auf ein von ihm verfasstes f, in dem er seine "Sehnsucht" nach dem Osten zum Ausdruck bringt.
2Die Stadt i im antiken Italien war ein wichtiger Schauplatz während des Zweiten Punischen Krieges. Nachdem Hannibal 216 v. Chr. die Römer in der Schlacht von Cannae entscheidend besiegt hatte, zog er nach Capua, wo seine Truppen eine längere Zeit verbrachten. Capua wurde berüchtigt für den Luxus, die Dekadenz und den Müßiggang, in die Hannibals Soldaten verfielen, was letztlich dazu beitrug, ihre Kampfmoral zu schwächen.

Register

aBieuxy
bTillich, Johannes Oskar
cWever, Eva
dChampagne
eTillich, Paul
fBrief von Paul Tillich an Margarete Tillich vom 18. Februar 1915
gNouvron-Vingré
hBieuxy
iCapua
jWinkler, Toni
kTillich, Paul

Überlieferung

Signatur
USA, Cambdridge, MA, Harvard University, Harvard Divinity School Library, Tillich, Paul, 1886-1965. Papers, 1894-1974, bMS 649/193(13)
Typ

Brief, eigenhändig

Postweg
Bieuxy - unbekannt
voriger Brief in der Korrespondenz
Feldpostkarte von Paul Tillich an Johannes Tillich vom 12. Januar 1915
nächster Brief in der Korrespondenz
Brief von Paul Tillich an Johannes Tillich vom 31. März 1915

Entitäten

Personen

Orte

Briefe

Zitiervorschlag

Brief von Paul Tillich an Johannes Tillich vom 9. März 1915, in: Paul Tillich, Korrespondenz. Digitale Edition, hg. von Christian Danz und Friedrich Wilhelm Graf. https://tillich-briefe.acdh.oeaw.ac.at/L00424.html, Zugriff am ????.

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