Brief von Paul Tillich an Marie Tillich und Margarete Tillich vom 18. Dezember 1915

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Der editierte Text

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D. 18. Dez. 1915.
Liebe a und b!

Von c an wart Ihr eigentlich die Hauptsache bei Weihnachten; daß Ihr kommt, aus d, dem mystischen Ungeheuer meiner Kinderphantasie, dem Ort aller Herrlichkeiten der Welt, das versetzte uns in höchste Spannung, und wenn aus dem alten Rumpelomnibus außer drei lieben Gesichtern auch zahllose Pakete sprangen – aus e! – dann stieg die vorweihnachtliche Spannung auf den Siedepunkt. -- Und dann in f wenn wir im Studierzimmer warteten, und beim Klingeln alle hinsprangen, um noch einen Blick auf die Pakete zu erwischen... und dann der Heilig-Abend mit den gemütlichen Familien – und der erste Weihnachtstag mit den ernsten Theologie- und Kirchengesprächen, und endlich der zweite Weihnachtstag mit dem wunderbaren Schinken, Rotwein und Leberwurst unter dem breiten Weihnachtsbaum, der Doppeltanne, wo immer nur einer den anderen nebenan sehen konnte... Ja das war, und Ihr wart die Hauptsache, all die Jahre hindurch! Und in meinen Gedanken seid Ihrs immer noch und werdets wohl immer bleiben. Denn Kindheitsweihnachten ist das Schönste für alle Zeiten! |

Nun ist schon das zweite Weihnachten im Felde; es hat nicht die Wehmut des ersten; man ist härter geworden, und ich fürchte, Millionen sind bitter geworden... aber die Schatten der Traurigkeit sind tiefer geworden und lassen das Weihnachtslicht nur gebrochen hindurch. Dennoch leuchtet das Licht in der Finsternis; aber es ist jetzt schwer, es zu sehen; Ihr solltet doch Euch meine Briefe geben lassen; ich will, daß Ihr alle, jeder in seinem Kreise, ständig das Ungeheure vor Augen habt, was hier draußen täglich von unseren Leuten ertragen wird, was sie denken und fühlen und von Euch verlangen. Der falsche Optimismus der Heimat muß zerbrochen werden. Ein Blick auf die französischen Drahthindernisse mit den seit 2 Monaten unbeerdigten Leichen unserer Soldaten, an die man nicht herankann, enthält mehr Wahrheit, als 99/100 aller Zeitungsartikel. Das sehen und dennoch hoffnungsvoll bleiben, ist erst Mut. Wir wagen es immer wieder, wie jeder Glaube ein Wagnis ist, vor allem der Weihnachtsglaube. In ihm wollen wir ausruhen und im Geist uns wieder sammeln unterm Weihnachtsbaum, wie einst --- im Geist und in der Liebe.

Euer treuer
g!

Fußnoten, Anmerkungen

Register

aTillich, Marie
bTillich, Margarete
cBad Schönfließ
dBerlin
eBerlin
fBerlin
gTillich, Paul

Überlieferung

Signatur
USA, Cambridge, MA, Harvard University, Harvard Divinity School Library, Tillich, Paul, 1886-1965. Papers, 1894-1974, bMS 649/193(21)
Typ

Brief, eigenhändig

Postweg
unbekannt - unbekannt
voriger Brief in der Korrespondenz
Brief von Paul Tillich an Marie Tillich und Margarete Tillich vom 27. Juni 1915

Entitäten

Personen

Orte

Zitiervorschlag

Brief von Paul Tillich an Marie Tillich und Margarete Tillich vom 18. Dezember 1915, in: Paul Tillich, Korrespondenz. Digitale Edition, hg. von Christian Danz und Friedrich Wilhelm Graf. https://tillich-briefe.acdh.oeaw.ac.at/L00458.html, Zugriff am ????.

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