Brief von Paul Tillich an Johannes Tillich vom 19. Dezember 1915

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Der editierte Text

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D. 19. Dez. 1915.
Lieber a!

Habe vielen herzlichen Dank für Deinen Weihnachtsbrief;1 er hat mir viel gegeben, vor allem durch die Liebe die hinter jedem Deiner Worte steht. Da es aber der menschlichen Natur nicht möglich ist, dauernd auf die Abgründe zu starren, von denen sie umgeben ist, da das Leben die einfache Forderung der Selbsterhaltung stellt und durchsetzt, indem es die Sinne und Gedanken mit dem Unmittelbaren erfüllt, darum will ich nun, soweit es geht, all das Besprochene ruhen und im Unterbewußtsein sich entwickeln lassen; das Resultat wird dann selbst Unmittelbarkeit und Lebensgefühl.

So will ich Dir zunächst einmal von dem Wichtigsten der persönlichen Unmittelbarkeiten berichten, den Verhandlungen über meinen Beruf. Ich habe bei Madrasch2 in b meine c, d. h. den Pflichtbogen, in Druck gegeben; bis jetzt sind zwei Bogen durch meine Hände gegangen und druckfertig, der erste schon ganz gedruckt. Ich erwarte täglich den dritten. Zugleich habe ich an die Fakultät den d gestellt, daß mir Probevorlesung und Habilitation vom Felde aus gestattet würden, möglichst bald nach Einlieferung der Exemplare. Die Fakultät e sehr liebenswürdig, daß sie mir| das Kolloquium erließe und jederzeit zur Abhaltung der Habilitation bereit wäre. Von den von mir vorgeschlagenen Themata wurde bestimmt: f, das schwerste aber am meisten zeitgemäße. Ganz klar bin ich mir über die Behandlung noch nicht. Es wird sich um die Verhältnisbegriffe: Christianisiertes Volk auf der einen und Volkskirche auf der anderen Seite handeln. Hoffentlich finde ich genügend Zeit, um etwas Vernünftiges zu machen. Mitte Januar würde ich dann einen Tag Urlaub nehmen und die Sache abmachen. Längerer Urlaub würde mir den Frühlings- oder Sommerurlaub verderben.

Der Gedanke, daß ich noch mal in den so lange erwarteten und ersehnten Beruf treten sollte, ist mir unfaßbar, wie der Friede überhaupt, auf den ich vor 1 ½–2 Jahren nicht rechne. Ob ich dann noch geistiger Arbeit im produktiv-wissenschaftlichen Sinne fähig sein werde, ist mir sehr zweifelhaft, und noch zweifelhafter, ob dann in Deutschland genug Geld ist, um einen Privatdozenten zu ernähren. Aber das ist ferne, ferne Zukunft; und was auch geschehen mag; die Ewigkeit bleibt uns. Und das sagt mir und uns allen hier draußen der Weihnachtsbaum.

Viel Weihnachtsgrüße hin zu den Euren!
In dankbarer Liebe Dein
g!

Fußnoten, Anmerkungen

1Liegt nicht vor.
2Gemeint ist der Verlag H. Madrasch, Königsberg Nm.

Register

aTillich, Johannes Oskar
bKönigsberg/Neumark
cTillich, Der Begriff des übernatürlichen, sein dialektischer Charakter und das Prinz..., 1915
dBrief von Paul Tillich an Ferdinand Kattenbusch vom 9. November 1915
eBrief von Ferdinand Kattenbusch an Paul Tillich vom 29. November 1915
fTillich, Der Begriff des christlichen Volkes, 1999
gTillich, Paul

Überlieferung

Signatur
USA, Cambdridge, MA, Harvard University, Harvard Divinity School Library, Tillich, Paul, 1886-1965. Papers, 1894-1974, bMS 649/193(13)
Typ

Brief, eigenhändig

Postweg
unbekannt - unbekannt
voriger Brief in der Korrespondenz
Postkarte von Paul Tillich an Johannes Tillich vom 9. Oktober 1915 [PS]
nächster Brief in der Korrespondenz
Brief von Paul Tillich an Johannes Tillich nach dem 12. August 1916

Entitäten

Personen

Orte

Literatur

Briefe

Zitiervorschlag

Brief von Paul Tillich an Johannes Tillich vom 19. Dezember 1915, in: Paul Tillich, Korrespondenz. Digitale Edition, hg. von Christian Danz und Friedrich Wilhelm Graf. https://tillich-briefe.acdh.oeaw.ac.at/L00459.html, Zugriff am ????.

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