Der editierte Text

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28. Mai 1915
Lieber a!

Aus der umstehenden Seite könnt Ihr ziemlich genau ersehen wo und wie ich wohne. Ich gebe einige Erläuterungen zu den Zeichnungen.

b liegt ungefähr ebensoweit wie c von der Aisne und damit von der Schützenlinie entfernt; nur weiter nach Osten, am linken Flügel unseres Korps, fast genau nördlich d. Es ist geographisch bestimmt durch das Tal an dessen Nordzipfel es liegt, und durch das es landschaftlich außerordentlich weit e überlegen ist. Das Tal ist größtenteils bewaldet, hat unendliche Krümmungen, Zipfel, Seitentäler und ist recht schwierig zu übersehen. Ich habe bei meinen {Fahrten} von f Monate gebraucht, ehe ich es ganz im Kopf hatte. Dabei sind die Entfernungen nicht groß. Die Strecke g-h kann man in einer Stunde leicht durchreiten. Ich habe die Wege aufgezeichnet, auf denen Ihr Euch meine Tätigkeit insbesondere vorstellen könnt. Durch das Schlachtfeld von i bin ich damals auf der großen Chaussee gegangen. Nach Norden ist landschaftlich nichts los. Erst in j, dem Sitz des Divisionsstabs, fängt es wieder an, hübsch zu werden. Dafür ist es aber leicht möglich in die östlich, bei k beginnenden Täler zu reiten, wo das dritte Korps liegt. Desgleichen nach l.
Der Ort m ist länglich, am Talzipfel entlang, gebaut. Etwa 30 Bewohner, Frauen und Kinder sind noch da; alles andere ist abtransportiert. Da nur noch eine Artilleriekolonne außer dem Stabe hier liegt, sind die Hälfte der Häuser vollständig ausgeraubt. Die kahlen Wände mit Tapetenfetzen sind| [Darstellung: Auf der zweiten Seite befinden sich zwei seitenfüllende Zeichnungen mit der Überschrift "n d. 26. Mai 1915". In der oberen Hälfte der Seite ist eine detaillierte Bleistiftskizze einer Karte zu sehen, auf der Ortsnamen, Flüsse und die Topografie an der Westfront verzeichnet sind, wie sie von o in diesem Brief beschrieben wird. Die untere Hälfte der Seite präsentiert die Vorderansicht des "Schlosses", in dem Tillich wohnt. Unter den jeweiligen Fenstern des Landhauses sind die Funktionen der einzelnen Zimmer aufgeführt.]| das einzige, was übriggeblieben ist. Der Kirchturm ist von uns niedergelegt, damit er der Artillerie kein Ziel bietet. Sonst ist die Kirche gut erhalten. Einigen Schaden hat auch die mehrfache Beschießung des Ortes gemacht, die aber außer einem Schwein noch niemand zur Strecke gebracht hat und in keiner Weise Grund zu Besorgnissen bietet. Seit 14 Tagen ist überhaupt nicht mehr hergeschossen worden. Gefährlich ist überhaupt nur der erste Schuß, da bis zum zweiten reichlich Zeit ist, in die Unterstände und Keller zu gehen; und die meisten Schüsse gehen drüber weg und nebenbei. – – –

Wir bewohnen das sogenannte Schloß, ein schmales langes Landhaus mit der Front nach dem Tal, oben am Abhang mit herrlicher Aussicht auf Schloßpark und Tal. Das Haus hat nur eine Reihe Zimmer, unten gehen die Zimmer nach beiden Seiten durch, nach Norden auf die Straße, nach Süden ins Tal; oben haben die Zimmer nur Südfenster; nach Norden ist ein Gang. Vor dem Schloß ist eine Terrasse, links beiliegende Kastanie, unter der wir Kaffee trinken, rechts eine Tanne. Zur Terrasse führt eine Freitreppe mit Rampe herunter. Auf dem Marsch von p nach q soll 1870 der r hier Quartier gehabt haben.1 Als die Brigade einrückte, war außer den kahlen Wänden nichts vorhanden. Jetzt ist alles recht gut eingerichtet, vornehmlich mit Möbeln aus der Verrerie.2 Unter Operationszimmer ist natürlich das Zimmer für militärische Operationen zu verstehen. Der Schloßpark ist völlig verwildert. Er ist umschlossen von einer epheuumrankten Mauer. Die Wege sind alle nur so breit wie Fußpfade, kein einziger ordentlicher Wandelgang. In der Talsole [sic!] ist Obstwiese, auf der unsere Pferde weiden. Das Wort Park ist darum etwas| zu viel gesagt.

Mein Zimmer ist zweifenstrig mit herrlicher Aussicht. Das Innere ist durch alte Sachen aus y und neue von hier geradezu vornehm geworden. Den Steinfliesenfußboden, der hier merkwürdiger Weise im ersten Stock angewandt ist, habe ich vollständig mit Teppichen und Läufern belegt. Mein Arbeitstisch steht an der Wand neben zwischen den beiden Fenstern; an der Wand hinter mir steht der Reihe nach mein Kleiderschrank, ein Eisenofen, Wasch- und Nachttisch, Bett: mein Studier- und Schlafzimmer. An der Wand mir gegenüber steht der Reihe nach eine große Vase mit zwei Sesseln und einem runden Tisch, an der Wand zwei Ölbilder aus der Verrerie, wo auch die Vase her ist: Mein gutes Zimmer, dann ein altes holzgeschnitztes Möbel, als Bücherständer zu verwerten, sehr kunstvoll, dann eine Kommode. Bett und Kommode gehen schon zur Türwand herum, und lassen zwischen sich die tuchbespannte Tür. Eine Uhr, sonstige Vase Vasen, seit Pfingsten zwei Maien, viele Bilderrahmen – die einzigen Überbleibsel in den verlassenen Häusern – harren der Füllung mit Jugendbildern, zwei Spiegel sind angenehm und nützlich zugleich, eine elektrische Birne strahlt mystisch-rotes Licht durch den Raum, schwere Vorhänge lassen die Sonne nicht durch, wenn sie zu warm am Mittag scheint und weitere Herrlichkeiten stehen in Aussicht... Daß gegen diese Pracht alle Schönheiten des neubemalten z Bauernzimmers verblassen, ist klar.... und morgen erzähle ich von Menschen und Ereignissen:

Es grüßt Dich herzlich
Dein aa!

Rundlauf: abac3adae af
|:ag soll das zum Familientag wieder mitbringen Euer ah 30/5:|


Fußnoten, Anmerkungen

1Im Deutsch-Französischen Krieg, der von 1870 bis 1871 stattfand, wurde der französische Kaiser s in der Schlacht von t am 2. September 1870 gefangen genommen. In der Schlacht spielte die 3. Armee unter der Leitung des damaligen Kronprinzen u eine entscheidende Rolle. Nach dieser Schlacht konnten die deutschen Truppen innerhalb kurzer Zeit bis nach v vorrücken und ab dem 19. September belagern. Die Belagerung dauerte mehrere Monate und endete schließlich mit der Kapitulation von w am 28. Januar 1871.
2Mit Verrerie ist wahrscheinlich entweder die Glashütte von Vauxrot (franz. Varrerie de Vauxrot) oder die Kapelle im nahegelegenen x gemeint, die den Spitznamen La Verrerie trägt.
3Über "Papa – Greti" ist ein halbrunder verbindender Bogen, darüber: "schnell"

Register

aTillich, Johannes Oskar
bJuvigny (Aisne)
cBieuxy
dSoissons
eBieuxy
fBieuxy
gJuvigny (Aisne)
hVauxrezis
iSoissons
jCrécy-au-Mont
kTerny-Sorny
lLeuilly-sous-Coucy
mJuvigny (Aisne)
nJuvigny (Aisne)
oTillich, Paul
pSedan
qParis
rFriedrich III. (deutsches Reich)
sNapoleon III., ???
tSedan
uFriedrich III. (deutsches Reich)
vParis
wParis
xCuffies02880
yBieuxy
zBieuxy
aaTillich, Paul
abTillich, Johannes Oskar
acTillich, Margarete
adFritz, Alfred
aeTillich, Johannes Oskar
afTillich, Marie
agFritz, Johanna
ahTillich, Johannes Oskar

Überlieferung

Signatur
USA, Cambridge, MA, Harvard University, Harvard Divinity School Library, Briefe, bMS 649/193(13)
Typ

Brief, eigenhändig

Postweg
Juvigny - unbekannt
voriger Brief in der Korrespondenz
Brief von Paul Tillich an Johannes Tillich vom 4. Mai 1915
nächster Brief in der Korrespondenz
Brief von Paul Tillich an Johannes Tillich vom 30. Mai 1915

Entitäten

Personen

Orte

Zitiervorschlag

Brief von Paul Tillich an Johannes Tillich vom 28. Mai 1915, in: Paul Tillich, Korrespondenz. Digitale Edition, hg. von Christian Danz und Friedrich Wilhelm Graf. https://tillich-briefe.acdh.oeaw.ac.at/L00436.html, Zugriff am ????.

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L00436.pdf