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Lichtenrade , den 06.11.1913

Lieber Tillich,

ich komme von der einen Frage nicht los. Vielleicht können Sie mir einiges darüber sagen. In Schleiermachers Reden über Religion fand ich eine Stelle, wo gesagt wird das Höchste, das Ein und Alles der Religion sei es, alles im Gefühl uns Bewegende in seiner höchsten Einheit als ein u.und dasselbe zu fühlen, und alles einzelne und besondern nur hierdurch vermittelt, also unser Sein und Leben, als ein Sein u.und Leben in uns durch Gott. Gefährlich sei es, u.und auf dem Gebiete der Religion sicher nur leere Mythologie, die Gottheit als einen abgesonderten, einzelnen Gegenstand hinzustellen. Mythologie sei hier nicht nur die Vorstellung göttlicher Personen, sondern nach jede strenge Lehrform, wo irgend etwas als in in dem göttlichen Wesen geschehend dargestellt wird oder auch göttliche Ratschlüsse, welche in Bezug auf irgend etwas in der Welt geschehenes gefaßt werden, nichts zu sagen von den einzelnen göttlichen Ratschlüssen, welche dem Begriff der Gebetserhörung seine Realität geben." — — An sich ist mir das alles sehr klar u.und ich glaube, daß es sich so verhält. — Aber man betet natürlich dann nur, umein mit Gott eine Vereinigung zu erleben. Warum aber betet man doch immer um tausenderlei Dinge, die doch mit dem Verhältnis zu Gott garnichts zu | tun haben. Das einzig wirkliche Gebet wäre doch, darum zu bitten, daß man an Gott glauben kann, wovon wir neulich sprachen. Andrerseits ist das doch noch kein Einssein mit Gott.— Manchmal kommt es mir so vor, als ob Gott viel zu hoch sei, um überhaupt mit solch irdischen Dingen sich zu befassen, die doch im letzten Grunde wesenslos sind. Aber mehr neige ich zu der Ansicht, daß Gott unser ganzes Leben so mit lebt, daß er auch irdische Dinge versteht. Natürlich kommt dann der Gedanke, daß das bei den unzähligen Millionen Menschen u.und anderen Geschöpfen ausgeschlossen sei, aber das ist mir persönlich kein besonders schweres Problem. — Wie denken Sie denn über Gebetserhörung? — Ich habe mich natürl.natürlich wieder so unklar, wie möglich ausgedrückt, hoffe aber doch, daß Sie mich wenigstens im Hauptgedanken verstanden haben. Wollen Sie mir nicht bald schriftlich antworten, denn (was man schwarz auf weiß besitzt...) was man geschrieben hat, kann man sich besser durchdenken. — Dann noch eine Bitte: Schenken Sie mir doch, wenn es Ihnen möglich ist, Ihre Arbeit über Schelling und Ihre Photographie. Ich möchte so gern irgend ein Andenken an Sie haben. — Sehen Sie, so kommen immer tausend Fragen, die man so gern besprechen möchte. Wollen Sie mir in solchen Fällen manchmal helfen oder soll ich Sie da auch entbehren? Nein, bleiben Sie mir da wenigstens.

In Eile herzliche Grüße
Ihr Maria Klein.