Der editierte Text

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a, den 30. August. 13.
Lieber b,

wenn Sie jetzt nicht bald kommen, dann kann ich nicht mehr weiter! – All das Schreckliche der vergangenen Woche, was soll ich es Ihnen noch schreiben? – Sie, der einzige Mensch, der mir helfen könnte, der mich versteht, Sie fliehen vor mir, wie vor einer Gefahr. – c, wenn Sie mich jetzt sähen, dann hätten Sie Mitleid mit mir, dann kämen Sie! Ich will ja nichts von Ihnen, als einen Händedruck, nur Verständnis. Diese Woche war gräßlich. – Gestern Abend nach der Bibelstunde ein schrecklicher Streit zwischen d u. e um eine Bibelstelle. f war auf gs Seite. Ich lag schon im Bett, h | kommt laut weinend nach oben. Eine halbe Stunde wurde sie von i getröstet. – Wer tröstet mich? – –) Da plötzlich ein gellendes Schreien u. Rufen von j. Diebe waren da. Vor Schrecken konnte ich kaum hinübergehen. Die Diebe flohen. k schoß in die Luft. Gemerkt hatte es l, weil die Diebe in ms Eisenbahntunnel oder ein Loch daran gefallen waren. Dabei hatten sie auch die Dampflokomotive u. sämtliche Wagen mitgenommen. Alles verwüstet, sicher auch mit Willen, Schienen zum Teil umhergestreut u. zertreten – das war um 1/2 12. n ist den ganzen Tag geknickt. Die Wagen etc. hatten auch dummerweise über Nacht in dem selbsterbauten Schuppen | gestanden. – Der arme o. – – Aber das war nicht die schlimmste Aufregung. Viel schlimmer war ein schrecklicher Zusammenstoß mit p Anfang der Woche über die Schule. Ach, ich mag Ihnen all das garnicht schreiben. – erzählen möchte ich es Ihnen. Meine Nerven sind so herunter, wie noch nie. – Ich hatte es mir viel leichter gedacht, liebevoller etc. zu werden. Morgen, am Sonntag, habe ich den ganzen Tag Hausarrest, weil ich heute im Dunklen allein auf der Straße war, was q vor einiger Zeit verboten hatte. Es war nicht meine Schuld. r u. s versprachen mir, mich zu bringen. Als wir gerade gehen wollten, durften sie plötzlich nicht. | Nun kann ich den ganzen Sonntag zu Hause oder im Garten bleiben. Aber ich widersprach kein Wort, so stumpfsinnig u. gleichgültig bin ich schon geworden. – Weil ich in Bezug auf die Bibelstelle t zustimmte – aber am Abend schon zu müde war, es u auf ihren Wunsch näher zu erklären, es war auch nicht so einfach – Unrecht war es trotzdem von mir, es nicht zu tun, behauptete v ich hätte überhaupt nur zugestimmt, um entweder w zu schmeicheln (weil er von neulich noch etwas böse mit mir war) oder aus Oberflächlichkeit, "denn tief ginge mir so etwas nie." So sagt meine x und die anderen? Wozu erzähle ich Ihnen all das? | Es wäre mir gleichgültig, wenn ich nur einmal Sie sehen könnte. Hier spielt noch anderes mit, als die Frage: Liebe oder Freundschaft? Gerade Sie müssen sich doch darüber erheben können, stets nur an meine Liebe denken zu müssen und als Freund kommen, die Freundin zu trösten. Mein ganzes Innere empört sich dagegen, daß ich so viel an Sie denke, während ich kaum einmal etwas höre, wie es Ihnen wirklich geht. Nicht einmal weiß ich, ob Sie und wann Sie nach y gehen!! Soll denn meine ganze Liebe, mein Herz wirklich begraben werden? – Wollen sie das, dann kommen Sie nur garnicht mehr oder schreiben Sie möglichst wenig, wie bisher! – Ich verlange Sie ja nur als Freund | zu sprechen. – Ich verstehe überhaupt nicht, daß ich äußerlich noch so ruhig fortlebe, nein besser vegetiere. Kennen Sie denn nicht auch Stunden, wo man selbst von Gott verlassen sich fühlt? Das Leben werde ich mir nicht nehmen, auch Ihretwillen nicht. Aber man kann auch trotzdem einen Kirchhof in seinem Inneren tragen. – Meine Liebe ist wie das Wasser einer Quelle, dem der Ausgang versperrt ist. Es sammelt sich, da bricht es mit mächtiger Macht hervor oder allmählich muß es – vertrocknen. – – – Nein, nein das ist ausgeschlossen. Denken Sie doch einmal, wie lieb ich Sie habe. Sind Sie da nicht verpflichtet, wenigstens drum | zu beten, daß Sie mich auch lieben können. – Warum kommen Sie nicht? – Ich glaube kaum, daß ich Sie noch einmal bitten kann, zu kommen! Aber Sie retten mich aus großer Gefahr durch Ihr Kommen. Vielleicht sagen Sie zum Schluß, daß in diesem Brief nur mein Fleisch gesprochen habe, anstatt des Geistes. Das ist nicht der Fall. Das will ich Ihnen versprechen, meine Seele sehnt sich vielmehr nach Ihnen, wie alles andere. Mein ganzes Leben ist eine Sehnsucht. Ach, denken Sie daran, daß ich Sie nur einmal sehen möchte. Ich glaube sicher, daß alles Gute, was überhaupt noch in mir ist, in der Liebe zu Ihnen liegt. – Haben Sie denn noch nie etwas anderes für mich empfunden, | als Freundschaft? Gott allein weiß, wie ich gern alles hingeben möchte, um Sie zu besitzen. Warum hätte er mich Sie sonst lieben lassen? – Aber meine Kraft ist jetzt am Ende. Sie haben sich jetzt lange genug von meiner angreifenden Gegenwart erholen können, deshalb müssen Sie jetzt kommen. Wenn ich Sie jetzt nicht schnell sehe, geht es nicht mehr weiter. Montag, Dienstag ist frei. Warum setzen Sie sich nicht einmal schnell auf die Bahn, und trösten nach so endlos langer Zeit den Menschen, der Sie mehr liebt als alle Menschen? Sie können freilich sagen: "Um Ihretwillen", aber das stimmt nicht. Ich muß mit Ihnen reden. Teurer, geliebter Freund. Stoßen Sie mich nicht zurück. – Und ich | Aber meine körperliche Kraft wenigstens ist erschöpft. I. B. mache ich oft auf mit schrecklichem Herzklopfen, aus der Angst, Sie lange nicht zu sehen – oder ich kann deswegen nicht einschlafen. – Die Sehnsucht beständig macht mich elender, als, wenn ich Sie einmal wiedersehe, und mich tüchtig aufregte, was aber das Gleichgewicht wiederherstellt – Nein, z, es ist unfaßlich, daß ich es solange schon ohne Sie aushielt. Aber länger geht es auch nicht. Kommen Sie Montag. aa wundert sich sogar, daß Sie nie mehr kommen! Es ist bald 12 Uhr! Ich möchte Sie zu Ende lieben dürfen!

Ihre
ab.

Können Sie überhaupt verstehen, was Leidenschaft ist? Haben Sie je etwas davon erlebt? – Dann helfen Sie mir!


Fußnoten, Anmerkungen

Register

aBerlin-Lichtenrade
bTillich, Paul
cTillich, Paul
dKlein, Lisa
eKlein, Ernst August Ferdinand
fKlein, Elisabeth
gKlein, Lisa
hKlein, Lisa
iKlein, Elisabeth
jKlein, Ernst August Ferdinand
kKlein, Ernst August Ferdinand
lKlein, Ernst August Ferdinand
m???, Rudi
n???, Rudi
o???, Rudi
pKlein, Ernst August Ferdinand
qKlein, Ernst August Ferdinand
rChristiansen, Martha
sChristiansen, Anna
tKlein, Ernst August Ferdinand
uKlein, Elisabeth
vKlein, Elisabeth
wKlein, Ernst August Ferdinand
xKlein, Elisabeth
yBonn
zTillich, Paul
aaKlein, Elisabeth
abRhine, Maria

Überlieferung

Signatur
USA, Cambridge, MA, Harvard, Harvard Divinity School Library, Tillich, Paul, 1886-1965. Papers, 1894-1974, bMS 649/178
Typ

Brief, eigenhändig

Postweg
Lichtenrade - unbekannt
voriger Brief in der Korrespondenz
Brief von Maria Rhine an Paul Tillich vom 23. August 1913
nächster Brief in der Korrespondenz
Brief von Maria Rhine an Paul Tillich vom 17. September 1913

Entitäten

Personen

Orte

Zitiervorschlag

Brief von Maria Rhine an Paul Tillich vom 30. August 1913, in: Paul Tillich, Korrespondenz. Digitale Edition, hg. von Christian Danz und Friedrich Wilhelm Graf. https://tillich-briefe.acdh.oeaw.ac.at/L00368.html, Zugriff am ????.

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L00368.pdf