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den 23.08.1913

Lieber Paul,

ein stiller, einsamer Sonnabend Abend. Da muß ich Ihnen schreiben. Heute will ich nur fragen. Ich saß jetzt auf der Treppe vor unserem Haus und dachte, daß ich alles darum gegeben hätte, wenn Sie da gewesen wären. Aber es ist doch schön, die Stille. Die Eltern sind in Berlin den Abend. – Darf ich immer mit allem Kummer jetzt zu Ihnen kommen? – Ärgern Sie sich auch nie, wenn ich manchmal kleinlich bin? Und wenn Sie sich über mich ärgern, dann sagen Sie es mir immer! Das müssen Sie mir versprechen! — Bitte, stellen Sie immer recht hohe Anforderungen an mich! Halten Sie mich nie für zu dumm, für unfähig, hohe Gedanken | zu fassen. Nur, wenn ich stets nach höheren strebe, kann ich weiter kommen.- Ich gelte so vielfach bei meinen Bekannten für oberflächlich; daß Sie mich nicht dafür halten, weiß ich. Sehen Sie, früher, als Sie und Dor bei uns waren, hieß es beständig: Lisa ist die religiös u.und wissenschaftlich interessierte, Maria ist nicht Ernst zu nehmen. – Zwar zog es mich ja immer, schon damals, mehr zu den Menschen. Aber man kann aus den Menschen auch viel lernen. – Außerdem ist es augenblicklich weniger stark der Fall. – daß aber damals mich dieses Urteil schon stark verletzte, kann ich Ihnen nur sagen. Ich hätte es aber nie sagen mögen. Außerdem war ich damals fast noch leichtherziger, wie jetzt, weil ich nie etwas nachtragen konnte. Auch jetzt haben Mama und, wie ich heute hörte, auch Hans Chri| stiansen gesagt: Das einzige Gute an mir wäre, daß ich nie etwas übel nehme. - Bitte halten Sie mich nie, nie für oberflächlich! Es geht mir alles viel tiefer, als ich es zeige. Ich will immer lernen. Für mich ist es ja schon ein großer Trost, zu wissen, daß ein Mensch etwas anders über mich denkt. – Nun muß ich Sie etwas anderes fragen. Eben all diese Fragen sind viel besser mündlich zu besprechen. Erstens werden sie schriftlich so breitgetreten, und man kann alles so schwer ausdrükken. – Nämlich: Ist es Ihnen nicht manchmal sehr unangenehm, daß ich Sie liebe? Wenn ich von einem Manne geliebt würde, den ich nicht liebe, dann würde es mir schrecklich sein! Ich würde ihn auch möglichst meiden. Andrerseits glaube ich genau zu wissen, daß es bei Ihnen nicht der Fall ist. Das ist bei Ihnen | die Freundesliebe die mitspricht. Allerdings ist es Ihnen etwas unangenehm, mit mir zusammen zu sein, weil Sie mich für zu leidenschaftlich halten, um ruhig und sachlich zu sein. – Aber, lieber, lieber Tillich, ich will mich beherrschen. Nur als Freund möchte ich Sie einmal sehen. – Denken Sie nicht, daß es mir zu schwer wird, Sie zu sehen. Nein, wenn Sie ahnten, wie ich mich in jedem Augenblick nach Ihnen sehne, dann würden Sie einsehen, daß auch, wenn ich Sie wirklich da habe, ich mich kaum mehr mit Ihnen beschäftigen kann. – Allerdings zwinge ich mich jetzt gewaltsam zu anderen Dingen. Ich arbeite so viel wie möglich. Trotzdem freue ich mich auf jede Minute, wo ich ungestört an Sie denken kann, auf die Bahnwege, aufs Bett etc. – Sie sagen, man sieht auch in der | höchsten Hingabe an den anderen immer nur sich selbst. Sie haben Recht, aber doch nur teilweise. Die Liebe ist eine Verwechslung der Wesen, man strebt nur danach, eins zu werden. Das ist natürlich auch zum großen Teil Egoismus, wenn man es zergliedert, aber ich möchte das garnicht. Ich glaube, wenn ich einmal meiner Liebe freien Lauf ließe, d.h. wenn ich wiedergeliebt würde, dann würde ich zu allem im Stande sein. Man soll aber Gott lieben – mehr, auch als einen Mann. – Das ist ja eigentlich selbstverständlich. Und trotzdem es ist sehr, sehr schwer. – Glauben Sie, daß ich zu tief unter Ihnen stehe, und daß Sie mich deshalb nicht lieben können? Diese Frage beantworten Sie mir! – Sehen Sie, seit Lisbeths Tode bin ich aufgewacht, auch vorher war ich nicht mehr ganz Kind. Und mit ihrem Tode zugleich | drängten so viele Zweifel auf mich ein, daß ich wahrhaftig fast am Verzweifeln war – viel, viel schlimmer war es, wie jetzt. Denn jetzt habe ich doch bestimmte Dinge, an die ich mich klammere und die ich festhalte. – Damals war eine solche Erschütterung durch mich gegangen, daß ich fast zu Grunde ging. Mit Lisbeths Tod fiel mir alles ein, was ich in der Jugend besessen hatte. Und seitdem war mein Leben ein beständiger Kampf. Aber der Kampf macht einen fast froh, jeder Sieg ist so fein und ermutigend. – Nun habe ich Sie gefunden, als Freund. Und Sie gehen auch immer vorwärts, Sie kämpfen auch, deshalb können Sie auch immer mein Freund bleiben, denn es kann immer wieder neu sein in unserer Freundschaft. Es ist keine Trübseligkeit, wenn eine Freund| schaft, wo man so ganz anders sich entwickelt, ganz allmählich schwächer u. kühler wird. Es ist nur eben so schwer, mit Vilma auf dem alten Fuße zu bleiben, weil Sie ja erstens gar keine Ahnung hat von dem, was ich erlebt habe, und weil Sie mir nicht ideal genug ist. Bei mir bezeichnen, glaube ich, alle bisherigen Freunde eine Epoche meiner Entwickelung. Ich will ja Vilmar wegen die Freundschaft festhalten, so gut ich kann, aber ich finde auch Sie hat zu wenig Interesse für meine Gedanken. – Vielleicht macht Sie mir denselben Vorwurf. Nur ist sie so einsam, deshalb muß ich sie festhalten, vielleicht verstehen wir uns auch später besser. Es ist schon so spät. Ich muß wirklich schließen. Ach, wenn ich doch heute wüßte, daß ich Sie näch| ste Woche endlich wiedersehe. Jede Nacht träume ich von Ihnen. Außerdem möchte ich so vieles noch mit Ihnen besprechen, Dinge, die geschrieben keinen Sinn haben oder, die wieder zu schreiben, mir zu schwer sind. Ich möchte Ihnen alles nur ins Ohr flüstern. Kennen Sie das Geheimnis, worauf diese große Liebe beruht? - Es ist nicht nur das Ich, was man sieht. Ach, nur einmal möchte ich er¬ fahren, wie es ist, solche Liebe zu Ende lieben zu dürfen. Glauben Sie eigentlich, daß man nur durch Entsagung groß werden kann? Ach, könnte ich an Ihr Herz, öffnen Sie es mir doch! Lassen Sie mich Ihre Seele kennen lernen, sie ist doch so groß! Geliebter Paul! Verstehen Sie mich! Das Leben ohne Sie ist zu schwer. Ich gebe mich Ihnen ganz hin.

Ihre Maria Kl.

Kennen Sie denn keine Sehnsucht nach einem Weibe, das Ihnen al-les sein möchte – und, nun nicht kann? – Ich liebe Sie doch so ohne Überlegung

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